Die Trauerfeier fand am 08.02.2008 in der Trauerhalle Baumschulenweg statt.

 

 

 

- Die Rede von Professor Doktor Kirchhöfer zur Trauerfeier

 

Liebe Frau Irmgard Neuner, liebe Angehörige, Kinder, Enkel und Freunde des Verstorbenen, verehrte Trauergäste, liebe Mitarbeiter der ehemaligen Akademie der Pädagogischen Wissenschaften

 

 

Wir haben uns zusammengefunden, um uns von Gerhart Neuner, dem Präsidenten der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften und dem ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, dem Ehemann, Vater, Großvater, dem Gelehrten und Freund zu verabschieden und das Sterbliche dem Wirken der Natur zu übergeben. Sein Tod macht uns  betroffen, spüren wir doch die Lücke in unserem Leben und ahnen wir, wie sehr er uns fehlen wird. Stirbt ein Mensch, ermüdet von einem langen arbeitsreichen Leben, so empfinden wir vor allem Trauer aus Hochachtung und Dankbarkeit für all das, was er geleistet hat. Fällt ein Mensch wie Gerhart Neuner einer heimtückischen Krankheit zum Opfer in einer Lebenszeit, in der er wissenschaftlich arbeiten konnte und wollte, so empfinden wir vor allem den Verlust. Und die Trauer wird noch nachhaltiger.

 

Trauer und Verlust spüren vor allem die Ehefrau und die Familie. All unser gemeinsames Trauern wird keinen Trost bieten für deren Schmerz. Diese Familie lebte im letzten Jahr nicht nur in Kummer ob seines Zustandes, sondern auch in Angst vor dem möglicherweise Kommenden. Der folgende Satz kann sicher kein Trost im Schmerz sein, aber es ein gnädiger Tod. Sein Leben war zwar vorrangig auf die Arbeit orientiert, und doch war die Familie nicht etwas Zweitrangiges, sondern wesentlicher Halt und Kraftquell seiner anspruchsvollen beruflichen Tätigkeit. Hier fand er die Ruhe und Entspannung, das Verständnis und den Rat. Die Art und Weise, wie die Familie auch in diesen schweren Tagen zusammengestanden hat und zusammensteht, wie man sich gegenseitig und vor allem die Mutter unterstützt und stützt, zeigt, dass Gerhart Neuner auch in seiner Familie seine Vorstellungen eines besseren, offenen und herzlichen Zusammenlebens selbst lebte und weitergegeben hat.

 

Gerhart Neuner wurde am 18. Juni 1929 in Böhmen geboren, Smetanas Moldau hat uns daran erinnert. Er verstarb friedlich, ohne Schmerzen am 5.Januar d.J. in seinem Haus in Zeuthen. Zwischen diesen beiden Daten liegt ein erfülltes Leben, eine Biographie des 20.Jahrhunderts. Biographien des Jahrhunderts der Extreme und der auf- und zusammenbrechenden Hoffnungen und so auch der Lebensverlauf Gerhart Neuners sind problemgeladen, spannungsreich, widersprüchlich. Er selbst hat aus lebensgeschichtlicher Perspektive in seiner Biographie mit dem programmatischen Titel “Zwischen Wissenschaft und Politik“ Bilanz  seines Lebens gezogen: ohne Bitterkeit, ohne Larmoyanz, aufrecht zu seinem Schaffen und so zu sich selbst stehend.

 Als 14-jähriger erlebte er die Wirren des Kriegsendes. Zwar streifte ihn der Krieg nur - wie er selbst schreibt -  aber die nachfolgenden Demütigungen, Irrwege und suchenden Neuanfänge prägten auch sein späteres Leben und wenn es nur die eine Erkenntnis gewesen wäre, dass politische Umstürze eine blindwütige Tendenz zur Eskalation und einseitigen Schuldzuweisung mit sich bringen   Noch vor Kriegsende begann er eine zweijährige Lehrerausbildung in Lobositz, die Umsiedlung aus Böhmen führt in die Altmark, von dort in einen Neulehrerkurs, den er 1947 abschließt. In seinen Lebenserinnerungen hebt er aus der Verabschiedungsrede eines alten Lehrers in Wittenberge noch einmal die Merkmale eines Volkslehrers hervor, die für ihn als Neulehrer in Rheinsberg und Beetzendorf in Sachsen-Anhalt maßstabsbildend wurden: Er solle ein politischer Mensche sein, als Volkserzieher ein Denker und ein Freund der Kinder sein. In Halle schließt er an der Pädagogischen Fakultät in den Fächern Biologie und Chemie das Staatsexamen als Fachlehrer ab. Der weitere Weg ist nur aus den Bedingungen eines radikalen Umbruchs sozialer Verhältnisse erklär- und verstehbar, in denen eine uneingeschränkte soziale Durchlässigkeit Aufsteigerkarrieren nicht nur möglich machten, sondern erwünschten und förderten. Und doch sei hinzugefügt, die veränderten Verhältnisse boten die sicher einmaligen Möglichkeit einer veränderten Lebens- und Berufslaufbahn, die Entscheidungen und den Weg aber musste er selbst  durchstehen. Es waren sein Fleiß, seine Hartnäckigkeit, seine Zielstrebigkeit, die ihm seinen raschen Aufstieg ermöglichten  Nach Tätigkeiten im Zentralinstitut für Pädagogik in Berlin promovierte er als einer der ersten Aspiranten am Herzen-Institut in Leningrad. Aus dieser Zeit stammten nicht nur vielfältige persönliche Bindungen zu sowjetischen Kollegen, die sein Leben begleiteten, sondern resultierte auch  die Vorstellung, dass hier in der Sowjetunion eine neue Pädagogik im Entstehen war, an der er mitwirken wollte. Nach seiner Rückkehr wurde er 1957 mit 28 Jahren Chefredakteur der „Pädagogik“, 1961 Direktor des Deutschen Pädagogischen Zentralinstitutes und mit der Gründung der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften 1970 deren langjähriger Präsident.

 

Sein Arbeitsleben war seit  dieser Zeit durch zwei Aufgaben bestimmt, die sich einander ergänzten, vielleicht sogar bedingten: Er initiierte und organisierte als Leiter einer akademischen Einrichtung mit 700 Kollegen und vielen weiteren Pädagogen des Landes die vielfältigen Aktivitäten zur Gestaltung des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems, und es ist wohl keine Übertreibung, dass viele der Wesenszüge dieses Bildungssystems seine Handschrift trugen. In dieser Tätigkeit bedurfte es eines sorgfältigen Balancierens, vielleicht sogar Jonglierens der Beziehungen zwischen pädagogischer Wissenschaft und Bildungspolitik. Wir würden ihm unrecht tun, wenn wir den Bildungspolitiker Gerhart Neuner vom Wissenschaftler trennen wollten, er wollte der Bildungspolitik nahe sein, hoffte er doch so seinen Einfluss gelten machen zu können. Er verstand sich als Mittler und Anreger für beide Seiten, von manchen auch deshalb missverstanden. Seine Haltung war nicht die der Distanz, sondern des Engagements und der Identifikation. Dabei verließ ihn bis in die letzten Jahre nicht die Hoffnung und das Träumen von einer besseren aufgeklärten Welt, in der alle eine umfassende moderne Bildung erhalten sollten..

 

Und in dieser Balance profilierte er sich in seiner zweiten Aufgabe als ein im In- und Ausland hoch anerkannter Wissenschaftler und Theoretiker der Pädagogik. Es gibt eigentlich kaum ein Gebiet der pädagogischen Wissenschaft, in dem er nicht wirksam geworden wäre und ein bleibendes theoretisches Erbe hinterlassen hätte. Mit seinen Arbeiten zur Allgemeinbildung, zur Entwicklung einer sozialistischen Persönlichkeitstheorie, zur polytechnischen Bildung, zur Lehrplangestaltung oder zur Begabungsforschung erwarb er sich auch unter westdeutschen und westeuropäischen Pädagogen respektvolle Anerkennung als Repräsentant und einer materialistischen Pädagogik und als streitbarer Kontrahent. Schriften wie die „ Sozialistische Allgemeinbildung und Lehrplanwerk“, zur “Konstruktiven Synthese“, Die Zweite Geburt“ oder „Leistungsreserve Schöpfertum“ werden zum bleibenden, längst nicht ausgeschöpften Bestand pädagogischer Wissenschaft gehören. Über viele Entwicklungen hielt er seine schützende Hand, förderte sie oder duldete sie im Stillen, auch wenn sich dieser oder jener heute nicht mehr daran erinnern will, wie zur Kreativitätsentwicklung im Vorschulalter, zur Methodologie der pädagogischen Wissenschaft, zur Begabungsentwicklung, zur Bidungssoiologie oder längere Zeit auch zur Reformpädagogik.

Viele Jahre organisierte er die Zusammenarbeit der Pädagogen sozialistischer Länder und die entsprechenden Konferenzen und entwickelte Visionen, wie eine moderne  Gesellschaft Bildung über die nationalen Grenzen hinaus konzipieren kann. Im Inland integrierte, koordinierte und initiierte er die unterschiedlichen Segmente und Strömungen , wie z.B. zur Medizin in einer medizinisch-pädagogischen Forschung mit dem Institut für Hygiene im Kinds und Jugenalter oder zur Erwachsenen und Berufpädagogik mit dem Institut für Hochschul- und dem Institut für Berufsbildung. Besondere Aufmerksamkeit galt der Entwicklung der Zusammenarbeit von pädagogischer Theorie und pädagogischer Praxis. Er blieb auch als anerkannter Wissenschaftler immer zugleich Lehrer und sah im Lehrer den eigentlichen Schöpfer einer neuen Volksbildung. Das Netz von Forschungsschule, Stützpunktschulen, Basiskreise, die Förderung von Forschungslehrern, das System der Pädagogischen Lesungen bildeten eine empirische Basis für pädagogische Forschung, die bis heure ihresgleichen sucht.

In dieser Zeit wurde die Akademie der Wissenschaften der DDR für ihn zu einer wissenschaftliche Denk- und Arbeitsstätte. Diese älteste der deutschen Akademien verstand er als pluralistische Gelehrtengesellschaft, die sich in der Tradition von Gottfried Wilhelm Leibniz für Interdisziplinarität und humane Nutzung der Wissenschaft unter sozialistischen Bedingungen einsetzen wollte. In der Nachfolgeeinrichtung der Leibniz-Sozietät fand er auch nach seinem Abschied aus dem Amt Anerkennung und Bestätigung und half dieser Sozietät wissenschaftliches Profil zu gewinnen, indem er sie unterstützte, in öffentliche Diskussionen zur Veränderung des gegenwärtigen Bildungssystems einzugreifen.

Es spricht für die wissenschaftliche Leistung und die Persönlichkeit von Gerhart Neuner, dass er auch nach einem Rücktritt und der widerrechtlichen  Auflösung der Akademie seine wissenschaftliche Arbeit fortsetzte und seine wissenschaftlich begründeten Positionen in den nun innerdeutschen, nicht unbedingt immer gleichberechtigten Dialog einbrachte. Ich darf als persönliche Bemerkung einflechten, dass es mich mit Genugtung erfüllte und erfüllt, unter einem Präsidenten gearbeitet zu haben, der seine wissenschaftliche Arbeit auch unter nunmehr veränderten Arbeitsbedingungen, als er nicht mehr den Schutz des Amtes und die Hilfe seines Sekretariats genoss, erfolgreich fortsetzte.

 

 

Hochverehrte Angehörige und Freunde!

Man sagt oft, ein Leben habe sich vollendet. Ich glaube zu verstehen, was landläufig darunter verstanden wird und sicher ist der bisherige Lebensverlauf Gerhart Neuners abgebrochen. Aber das Leben von Gerhart Neuner ist gerade das Gegenteil einer Vorstellung eines vollendeten Lebens. Er hat nie den Anspruch erhoben, ein vollendetes Werk geschaffen und hinterlassen zu haben. Die Bildungsidee und die Bildungspolitik werden sich immer wieder erneut vor Herausforderungen gestellt sehen und die jetzige Bildungsnot in diesem Landes und die Hilflosigkeit einer förderalen Bildungspolitik rufen regelrecht nach Veränderung und immer wieder wird man auf  seine unvollendeten Vorstellungen in der pädagogischen Wissenschaft zurückgreifen, sie aufgreifen und fortführen – wenn denn die Zeiten der Ignoranz und der Diskriminierung der Vergangenheit angehören. Insofern wird für ihn gelten, dass er nie aufhören wird zu wirken und mithin auch nie aufhören zu sein. Den Tod nicht nur als das unvermeidliche Ende eines individuellen Lebens zu betrauern, sondern dabei auch das Wachsen der kulturellen Wesenskräfte der Menschheit zu sehen und den Anteil des Einzelnen an diesem Geschehen zu werten, das dürfte seinem Lebenswerk angemessen sein. Und so dürfen wir die Endgültigkeit unseres Abschieds von Gerhart Neuner doch relativieren. Nicht einfach deshalb, weil er wahrscheinlich keinen der Angehörigen oder Freunde aus der persönlichern Erinnerung und aus dem Gedenken schwinden wird, sondern vor allem deshalb, weil er mit seiner Konsequenz und  Unbeirrbarkeit Wege zur Entwicklung einer humanistischen Bildung vorgedacht hat, auf denen wir und die nach uns weitergehen können und sollten. Was aber dem Leben seinen Sinn verleiht, gibt auch dem Tode seinen Sinn

 

Verehrter Gerhart Neuner, wir bedanken uns bei Dir!

 

 

 

 

- Die Rede des Enkels zur Trauerfeier

 

Liebe Anwesenden, Liebe Freunde, Liebe Familie,

 

Ich danke Ihnen – Professor Doktor Kirchhöfer – im Namen der gesamten Familie für ihre respektvollen und bewegenden Worte.

 

Als der dritte von sechs Enkeln möchte ich einige Worte sagen.

 

Wir haben unseren Opa geachtet, bewundert und geliebt.

 

Unsere Kindheit ist voller Erinnerungen an ihn.

Voller schöner Erinnerungen:

 

Unser Opa war, wenn wir Zeit mit ihm verbracht haben, immer ganz für uns da. Wir sind mit ihm lange Fahrrad gefahren, er kannte den Weg, fuhr vorne weg und hat dann immer rufend gefragt, ob wir noch hinter ihm seien:

Bist du da? Bist du da? Bist du da?

Wir haben Blaubeeren im Wald gegessen bis unsere Zungen ungesund dunkel aussahen.

Wir wollten morgens immer mit ihm rennen und waren sauer, wenn er uns nicht geweckt hat. Frühsport mit Opa hat uns unglaublich  viel Spaß gemacht.

Wir haben stundenlang Pilze gesucht. Opa hat uns gezeigt, wo welche standen, damit wir auch welche gefunden hatten.

Zu meiner Einschulung war ein sehr heißer Sommertag. Wir saßen bei den Erwachsenen und langweilten uns ein wenig, bis Opa anfing uns Enkel mit Wasser zu überschütten. Das war der Anfang einer mehrstündigen Wasserschlacht, Opa lachend mitten darin und in vollem Einsatz.

Unvergessen sind die langen Waldspaziergänge, in denen wir die Nähe zu Opa sehr genossen.

Wenn wir dann so im Wald spazierten hat manchmal einer von uns angefangen Opa mit Tannzapfen zu bewerfen. Opa warf zurück und dann jagten wir uns. Opa gegen die Enkel. Es ging um Kraft und den Spaß in der Natur.

Immer wenn wir im Wald waren, kannte Opa nicht nur alle Vogelstimmen und konnte sicher das Gezwitscher zuordnen, sondern machte viele von ihnen auch nach. Das war lustig und vor allem lehrreich.

Wenn wir zum See baden fuhren und noch unsicher am Ufer standen, war Opa schon im Wasser und rief uns zu sich. Er liebte es so über den See zu schwimmen und sich dabei zu unterhalten.

An den Abenden der Wochenenden baute Opa seinen Grill auf und war dann der große Grillmeister, dem wir helfen durften.

Wie haben Opa auch im Garten geholfen. Ich habe mit ihm Kohlrabi gepflanzt und den Rasen überarbeitet. Opa konnte mir das Gefühl geben gebraucht zu werden, obwohl ich noch klein war.

Ich hab in Frankreich Sandburgen mit ihm gebaut. Eine Burg sah nicht so aus, wie ich mir das vorstellte und ich wurde sauer. Ich war damals sechs Jahre alt und fing an mich mit Opa zu streiten. Am Abend versöhnten wir uns wieder, aber hier war Opa nicht nur Opa, sondern auch ein Freund, mit dem man eben auch streiten konnte.

Ich wollte immer der sein, der Opa zum Mittagessen aus seinem Arbeitszimmer holt. Mich hat das beeindruckt: Opa inmitten seiner Bücher. Opas Frisur war immer dieselbe. Da haben wir seine Haare umgekämmt. Mir hatte das gut gefallen. Ihm nicht. Er trug sie weiter wie bisher.

 

Ich habe meinen Großvater gekannt als einen klugen, lieben und lustigen Mann. Mit Opa konnte man die Zeit und die Welt um einen herum ganz vergessen und den Augenblick genießen.

Zuletzt habe ich ihn nur singend, lachend und pfeifend erlebt. Ich glaube nicht, dass einem ein Mensch in besserer Erinnerung bleiben kann.

Wie nimmt man Abschied von einem Menschen den man liebt ?

Wie nimmt man Abschied von einem Großvater, mit dem man soviel Tolles erlebt hat ? 

Jeder soll seinen Weg finden damit umzugehen. Ich trage die Erinnerung an so viele schöne Erlebnisse mit Opa Gerhart in meinem Herzen und bin dankbar für alles was er mir gegeben hat. Ich bin dankbar für so viele Erinnerungen, ich bin dankbar für so viel Lachen und besonders bin ich dankbar für das bestimmte Gefühl, welches man bei seinen Großeltern haben sollte und welches ich in der Nähe von Opa immer hatte. Das Gefühl von Liebe und Geborgenheit.

Ich sehe Opa, wie er still lächelt. So lächele ich auch jetzt, wenn ich an ihn denke.

Wir, Achim, Uwe, Konrad, Sinan, Muna und ich werden dich nie vergessen, Opa.

 

 

- Die letzten Veröffentlichungen von Gerhart Neuner

 

 

22.11.2003                                  

 

Wechselseitige Blockierung anstelle sachlicher Debatten

 

Das kürzlich erschienene Buch „Mit der Spaßgesellschaft in den Bildungsnotstand“, herausgegeben von C. Ludwig und A. Mannes, geht der Frage nach, warum die 15jährigen deutschen Schüler im internationalen Vergleich so schlecht abgeschnitten haben. Hierzulande scheiterten immer mehr Kinder an mangelnder Sprachkompetenz und an überbordenem Symbol- und Bildermüll. Dies sei unter anderem ein Resultat der Unterordnung der Kinder und ihrer Erziehung unter ideologische Ziele gewesen, an dem die neomarxistische Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule ihren Anteil hatte. Schlechter Unterricht sowie Modethemen und Erlebnispädagogik seien zu Lasten der traditionellen schulischen Basisfächer gegangen. In immer kürzerer Zeit sollten immer mehr Schüler mit immer weniger Vorkenntnissen unter immer ungünstigeren Lernbedingungen immer mehr Lerninhalte geistig bewältigen. Auf der Strecke bleiben musste das gründliche Einüben elementarer Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen sowie andere wichtige Basisfächer. Die Quittung dafür habe man vor allem bei TIMMS und PISA erhalten. Das polemisch gefasste Gegenkonzept zur rotgrünen Bildungspolitik entfalteten die Autoren in siebzehn Einzelbeiträgen. Manchem kann man zustimmen, tendenziöse Zuspitzungen sind jedoch unübersehbar.

Als Exempel hierfür können unter anderem die „zwölf Lebenslügen deutscher Schulpolitik“ von Josef Kraus gelten. Deren Folge sei eine „schulpolitische Schweigespirale“ gewesen, derzufolge niemand mehr gegen den Verfall schulischer Ansprüche aufzutreten wagte. Nun wird man der Notwendigkeit klarer Fächerstrukturen, der Kritik der Sprachbarbarei oder der Lebenslüge „omnipotente Schule“, die Kraus aufführte, durchaus zustimmen können. Schwieriger wird es schon, wenn von dem kränkelnden Dinosaurier Gesamtschule, von der Spaßpädagogik oder von der Feststellung die Rede ist, „unser Halbtagsschulsystem“ habe sich bewährt. Hier agiert der Autor tendenziös, und er neigt dazu, die gegebenen bundesdeutschen Realitäten als das letzte Wort der Wissenschaft anzupreisen. Erfahrungen anderer Länder kommen infolgedessen kaum ins Spiel, darunter jene, in denen PISA deutlich besser als die Bundesrepublik abgeschnitten hat und immer noch abschneidet. Außerdem kommen auf die Bundesrepublik die Bemühungen der Kultusminister um weitere internationale Vergleichstests und um einheitliche Bildungsstandards zu, die hohe Ansprüche mit sich bringen werden, und es ist kaum erkennbar, wie hiesige Erziehungswissenschaftler sich darauf vorbereiten.

Ein weiteres kritisches Thema ist Ganztagsbetreuung oder Ganztagserziehung. In nicht wenigen Ländern ist sie seit langem Realität, im deutschen Osten war sie es ebenfalls. Prominente Autoren polemisieren heftig gegen diese Schulform. In der vorliegenden Schrift kann sich lediglich eine Autorin, Donata Kluxen-Pyta, damit anfreunden. Sie kommt im übrigen nicht aus dem Osten, sondern ist in der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände tätig. Ganztagsschule, so prominente Erziehungswissenschaftler, sei ein Übel, und es müsse ein solches bleiben. Vor allem Frau Christa Mewes  polemisiert gegen dieses „verdummende Konzept der Frühkollektivierung“. Die Sozialisation von Kindern durch die Teilnahme an Gruppen mit Gleichaltrigen will sie zum alten Eisen werfen. Wenn überhaupt Säuglingskrippen, so könnten diese höchstens ein Notbehelf für elternlose Kinder sein. Ansonsten aber dürfe man das Kind nicht ohne Not in fremde Hände geben. Bis zum 3. oder 4. Lebensjahr seien flächendeckende Betreuungseinrichtungen für Säuglinge und Kleinkinder in Kindertagesstätten massiv abzulehnen. Die Mütter sollen zu Hause bleiben, und damit sie dies können, plädiert sie für ein „Müttergehalt“. Nun existieren Erfahrungen mit Kinderkrippen und Tagesstätten seit längerem in zahlreichen Ländern der Welt, sie verfügen mittlerweile über nicht wenige Erfahrungen der pädagogischen und gesundheitlichen Betreuung. Gesunde Kinder fügen sich nachweisbar gerne in die Kindergemeinschaft. Dass gesundheitlich labile besonderer Fürsorge bedürfen, ist allerdings nicht von der Hand zu weisen.

Die pädagogischen Erfahrungen Finnlands haben in den letzten Jahren Furore gemacht. In dem vorliegenden Buch suchen mehrere Autoren die finnischen Erfahrungen zumindest zu relativieren oder ganz abzuwerten. In Finnland, so mit spitzer Feder, werde seit 1972 die Differenzierung innerhalb eines einheitlichen Schulsystems bis zur neunten Klasse praktiziert, und dies alles ohne „Sitzenbleiben“ und „Relegation“. Die Zuwendung der Lehrer zu den Einzelnen werde über den grünen Klee gepriesen und die deutsche Schulpraxis angeschwärzt. Andere Akzente setzt in den Buch Frau Thelma von Freymann, die in Finnland und in anderen skandinavischen Ländern aufgewachsen ist. Unter dem Thema „...und was ist mit dem Schwachen?“ geht sie differenziert auf das selektionsfreie Gesamtschulsystem Finnlands ein. Ihre Erfahrungen besagten unter anderem, der finnischen Schule sei es weitgehend gelungen, gerade diejenigen 15jährigen zum Optimum ihrer Leistungsmöglichkeiten zu bringen, deren Elternhaus sie dabei eher behindert als unterstützt hätte. Man muss die international anerkannten pädagogischen Leistungen der skandinavischen und anderer Länder nicht über den grünen Klee loben, aber verdrängen wird man auch nicht können, in Deutschland ist der Anteil schwacher und schwächster Leser mit 23 % besonders hoch. Totale Analphabeten sind etwa 10 % der heute 17- bis 18jährigen. In dem Einwanderungsland USA mit praktisch allen Sprachen der Welt sind es 6%.

Vor allem der Grundschule komme die Aufgabe zu, möglichst alle Schüler zu optimaler Leistungsfähigkeit zu führen. Darauf aufbauend sind nach Möglichkeit die Abschlüsse der oberen Klassen anzustreben. Auf allen Stufen brauche die Schule klare Ziele und Vorgaben sowie verbindliche Rahmenrichtlinien. Bildung durch Unterricht sei, so Hermann Giesecke, eine kulturelle Erfindung und nicht von vorneherein Teil eines genetisch bedingten Überlebenswillens. Die Schulreformpädagogik hatte in dieser Hinsicht manche Illusionen, und sie habe daher entgegen ihren Beteuerungen wenig oder nichts bewirkt. Das Unterrichten müsse die zentrale Aufgabe der Schule bleiben. Das allerdings ist nicht die ganze Wahrheit. Pädagogische Strenge und hohe Leistungen allein sind nicht alles. Der Umgang mit Schülern und Schule braucht auch soziale Verhaltensweisen, Einfühlungsvermögen und Sensibilität. Die Schule bleibt ein wichtiger sozialer Ort. Sie muss das Miteinander pflegen und aktiv gestalten. Erst dann kann sie zur Lebensschule werden.

Der Disput um Bildung ist längst nicht beendet. Man muss ihn in sachlicher Ausgewogenheit fortsetzen und zugleich zu verhindern suchen, dass die Kontrahenten sich wechselseitig blockieren. 

 

03.01.2004

 

          Wirkungsmöglichkeiten und -grenzen pädagogischer Wissenschaft

 

Die Erziehungswissenschaften der verflossenen DDR können mit dem heutigen Tag auf 133 wissenschaftliche Kolloquien zurückblicken. An Versuchen, den ostdeutschen pädagogischen Disput mit seinen Spezifika ins Abseits zu drängen und vollständig zu liquidieren hat es in den verflossenen vierzehn Jahren nicht gefehlt. Es waren ostdeutsche Erziehungswissenschaftler, darunter vor allem unser langjähriger Kollege Horst Weiß, die dieses wichtige Gespräch über Bildung und Erziehung in Gang gehalten haben. Wir haben hierbei manches aufgefrischt, anderes korrigieren müssen, auf jeden Fall unseren Horizont erweitert. Auf jeden Fall haben wir uns nicht unterkriegen lassen, und wir sollten dies auch künftighin so halten.

Schon zu DDR-Zeiten haben wir die Bildungspolitik der Bundesrepublik zu verfolgen versucht, obwohl uns manches nicht zugänglich war. So erinnere ich mich an eine erziehungswissenschaftliche Publikation in der Zeit von 1974. Dazumal sind 258.000 Schüler in 9.700 Schulen und 20 Ländern über schulische Leistungen in Erdkunde, Biologie, Chemie und Physik befragt worden. Die Leistungen der bundesdeutschen Schüler lagen sämtlich unter dem internationalen Durchschnitt. In der Sekundarstufe ii befanden sie sich auf dem vorletzten Rangplatz, nur im achten Schuljahr Chemie rangierten sie etwas über den internationalen Mittelwerten. Die seinerzeit in der Bundesrepublik politisch Verantwortlichen registrierten diese Ergebnissen und zogen Schlussfolgerungen. Sie untersagten dem Deutschen Institut für Internationale pädagogische Forschung in Frankfurt am Main, das für die Teilnahme an dem internationalen Leistungsvergleich verantwortlich war, die weitere Mitarbeit. Von da an waren in der Bundesrepublik die Bildungsdebatten blockiert. Noch in den neunziger Jahren gaben bundesdeutsche Erziehungswissenschaftler in dem internationalen OECD/CERI-Bericht  zu Protokoll, sie dächten nicht daran in neue „Curriculumabenteuer“ zu stürzen (Skilbeck 1992, S. 43). Und sie verschliefen den Anschluss. Erst in den späten 90ziger Jahren sowie nach der Jahrhundertwende konnten mit TIMSS II und III sowie später mit PISA, obgleich arg verspätet, internationale Schulleistungsvergleiche wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Was den deutschen Osten betrifft, so hätte man annehmen können, er würde unbeeinflusst pädagogischen Erfordernissen nachgehen können. Zwar suchten wir dort, jedenfalls bis zum Ende der DDR, also bis zu Beginn der neunziger Jahre, internationalen Entwicklungen im Bildungsbereich nachzugehen. In der DDR-Akademie der Pädagogischen Wissenschaften war speziell eine Wissenschaftlerin damit beauftragt (Frau Dr. Gisela Höll), internationalen Entwicklungen sorgfältig nachzugehen. Aber die Ministerin für Volksbildung, Frau Margot Honecker, die für Bildungsfragen Interesse zeigte, behielt sich persönlich vor, welche Texte im internationalen Bereich öffentlich zugänglich  gemacht werden durften und welche nicht. So ist sozusagen auf beiden Seiten, solange der Staat DDR existierte, der Klassenkampf auch hinsichtlich Bildung und Bildungswesen ausgetragen worden. In beiden deutsche Staaten spielten mithin auch im Bildungswesen Blockierungen und Selbstblockierungen eine Rolle. So ist es offenbar kein Zufall gewesen, dass in Deutschland die Hochkonjunktur im Bildungswesen erst zu Beginn der neunziger Jahre einzusetzen begann. Andere Länder, wie etwa Schweden, Frankreich, Ungarn, Finnland, Schottland, Australien und Neuseeland, hatten bereits in den sechziger und siebziger Jahren mit Blick auf die Jahrhundertwende Bildungsreformen eingeleitet. Für die Einführung der Gesamtschule beispielsweise hatte sich Finnland, mit dem die seinerzeitige DDR auf dem Bildungssektor intensiven Austausch pflegte, 1977 entschieden.

Ein bedeutsamer Versuch, in Deutschland den Rückstand im Bildungswesen aufzuholen, waren die Aktivitäten das Forum Bildung, das von 2001 bis 2002 tätig war. Es war uns gelungen der Leibniz-Sozietät, einer Gelehrtengesellschaft, der etwa 200 Mitglieder angehörten, Zugang und Mitwirkung zu Forum Bildung zu ermöglichen. Die Sozietät hatte mit ihrer sechzehnseitigen Stellungnahme einen wichtigen Beitrag zum Forum Bildung leisten können. Frau Bundesministerin Bulmahn hatte unsere Stellungnahme, die „eine Fülle von bedenkenswerten Hinweisen und Anregungen enthält“, allen Mitgliedern des Forum Bildung zur Auswertung übergeben. Damit war es uns gelungen, ostdeutsche Erfahrungen in die bildungspolitischen Debatten einzubringen, und wir haben diese Möglichkeiten voll genutzt. Ich will unseren Anteil nicht überhöhen, aber in den abschließenden Empfehlungen des Forum Bildung sind unübersehbar Textpassagen aufgriffen worden, die unseren Vorschlägen entsprechen, so etwa: „Der Stellenwert von Mathematik und Naturwissenschaften an den Schulen muss erhöht werden. Das bedeutet auch, dass naturwissenschaftliche Fächer wesentlich problem- und praxisorientierter als bisher unterrichtet werden“.

 

28.02.2004

 

Eher ständestaatlich als wissenschaftlich begründet

 

Bei der kürzlich vorgestellten Grundschulstudie IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) schnitten die deutschen Schüler erfreulicherweise  gut ab. Sie erreichten unter 35 Staaten das obere Mittelfeld. Also könnte man zufrieden sein. Man erinnere sich, die deutschen 15-jährigen fanden sich in der 2001 veröffentlichen PISA-Studie lediglich im unteren Drittel wieder. Nach wie vor jedoch ist auch bei der Grundschulstudie die Differenz zwischen den sehr starken und den sehr schwachen Schülern beträchtlich. Schon bei der Schulvergleichsstudie PISA stach ins Auge, der Anteil 15-Jähriger war groß, aber die Leistungsspitze blieb ziemlich klein. Auch in der jetzigen Grundschul-Untersuchung umfasst das große Mittelfeld, gemessen bei den Viertklässlern anhand von Lesefähigkeit und Mathematik, 44 Prozent, also fast jeden zweiten Schüler. Und dieser wird zudem ziemlich willkürlich auf die verschiedenen Schularten aufgeteilt. Außerdem belegt die Studie, die Kinder von Arbeitern und Einwanderern werden systematisch benachteiligt. Das Kind eines Managers hat - bei gleicher Leistung - eine 2,63-mal so große Chance auf eine Gymnasialempfehlung wie das Kind eines Arbeiters, das deutscher Eltern allerdings ebenfalls eine 1,66-mal so große wie ein Einwandererkind. Die Übergangsempfehlung hängt von der Zensurengebung ab, und diese zeichnet sich nicht selten durch beträchtliche Willkür aus. Ein Kind, das bei Iglu gut lesen kann, aber nicht sehr gut, wird im Fach Deutsch an der einen Schule mit einer Eins belohnt, an anderer Stelle mit einer Vier bestraft. Nicht treffsicherer seien die Mathematikzensuren. Im gegliederten bundesdeutschen Schulsystem sollen, so die Theorie, nach der vierten Klasse die schwachen und praktisch orientierten Schüler in der Hauptschule platziert werden, die Mittelstarken in der Realschule und die Leistungsstarken im theoretisch orientierten Gymnasium. An diese Art von Begabungsunterschieden zweifeln viele, auch der deutsche Entwicklungspsychologe Kai S. Cortina. Sie sei durch keine Studie auf der ganzen Welt belegt. Cortina lehrt allerdings in den USA. Was in dem gegliederten deutschen Schulsystem vor sich geht, so dieser Wissenschaftler, sei eher ständestaatlich als wissenschaftlich begründet.

Das Bildungssystem nach oben hin durchlässiger zu machen, fordern auch die Autoren der IGLU-Studie. Deutschland, Tschechien, Ungarn und Luxemburg gehören zu jenen vier Staaten, die sich durch ein unterdurchschnittliches Gesamtleistungsniveau und zugleich durch eine überdurchschnittliche Bildungsungleichheit auszeichnen. Abgesehen von zwei Schweizer Kantonen, werden in den meisten Staaten Europas die Schüler erst nach Klasse 6 aufgegliedert, gekoppelt allerdings mittels verschiedenen Differenzierungsformen. Diese Entscheidung bevorzugen eine ganze Reihe von Ländern. Verbringen Schüler mehrere Jahre in gleichen Einrichtungen, so sei mehr Zeit für Diagnose und Förderung gegeben. Deshalb auch könnten integrierte Systeme schwächere Schüler besser fördern und zugleich breitere Spitzenleistungen hervorbringen. Man ist überrascht, solches neuerdings selbst in dem konservativen Bayern zu vernehmen. Die Erziehungswissenschaftlerin Gabriele Faust, die an der Universität Bamberg lehrt, entwickelt Systeme mit längerem gemeinsamen Unterricht für verschiedene leistungsstarke Schülergruppen, gekoppelt mit unterschiedlichen Formen von Differenzierung. Die kurze Grundschulzeit und die rasche Aufteilung der Schülerschaft auf mehrere unterschiedliche Schulformen bedeuteten einen mindestens dreimaligen Bruch in den Entwicklungs- und Lernbedingungen im Alter von 3 bis zwölf Jahren. Die Dauer der Grundschule, das Einschulungsalter und der Zeitpunkt des Übergangs in die Sekundarstufe I bedürfen daher neuer Überlegungen. Es gebe mithin gute Gründe für eine längere Grundschulzeit, die zumindest vom 5. bis zum 11. Lebensjahr dauern könnte. Allerdings müsste sie durch eine veränderte innere Arbeitsweise flankiert werden. Neben der längeren Dauer der Grundschule könne allerdings auch über den früheren Beginn nachgedacht werden, vorausgesetzt einzelne Schüler haben die entsprechende Reife erreicht. Man freut sich über den Mut von Frau Dr. Faust, aber dann verlässt sie dieser doch. Bayern denkt derzeit ebenfalls über die Schullaufbahn durch das Abitur nach acht Jahren nach, und dies werde derartige Entwicklungen nicht zulassen. Das Gymnasium also gibt vor, was im Bildungswesen zu tun und zu lassen ist, jedenfalls in Bayern. Existieren nicht auch andere geeignete Varianten? Baden-Württemberg jedenfalls ist da flexibler. Dort wird jedes dritte Abitur an einem beruflichen Gymnasium absolviert, das auf Klasse 10 der Realschule aufbaut. Der auf diesem Wege erworbene Hochschulabschluss muss den Vergleich mit dem traditionellen Gymnasium nicht scheuen. Aber immerhin, als engagierter Beobachter muss man feststellen, in der Bildungspolitik ist hierzulande in den letzten Jahren manches in Bewegung geraten. Die traditionelle Selbstfesselung scheint partiell aufgelockert zu sein,  die Vergangenheit wirkt allerdings immer noch nach.

Wer heutzutage sich um Schulwesen und um Hochschulwesen sorgt, solidarisiert sich gern mit den mutigen und ideenreichen Studenten. Dort zieht ebenfalls Bewegung ein. Gleichwohl stößt man immer noch auf mancherlei Absurditäten. Jeder dritte Student wechselt das Fach, jeder vierte bricht sein Studium ganz ab. In den Kultur- und Sozialwissenschaften, also auch in Erziehungswissenschaften, ist der Schwund nahezu doppelt so hoch. Man hat es in diesen Bereichen manchmal mit Kandidaten zu tun, die zehn, zwanzig und mehr Jahre studiert haben, was auch immer. Hohe Abbrecherquoten und lange Studienzeiten scheinen das Normale zu sein. Man hört, die Zentrale in Dortmund, die die Verteilung der Studienplätze verwaltet, sei dafür verantwortlich. Diese aber sei nur in besonders begehrten Fächern zuständig. Wer das Abitur nachweisen kann, hat die Berechtigung zu studieren. Zehntelnoten entscheiden mithin nicht selten über einen Studienplatz. Aber um den Wert von Durchschnittsnoten weiß doch jeder Schüler, Lehrer und Abiturient. 1972 erwarben 13 Prozent der Schüler das Abitur. Heute sind es dreimal soviel. Früher waren es 93 Studiengänge, heute sind es 900. Das alles ist kaum noch zu überschauen. Wie im Schulwesen bei PISA und IGLU so wird  man offensichtlich auch im Hochschulbereich nicht umhin kommen, den Hochschulen und Hochschülern mehr Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten einzuräumen.

 

 

15.02.2004

 

Ostdeutsche Erfahrungen im Bildungswesen der Bundesrepublik         

 

 

Seit das ostdeutsche Bildungswesen in jenem der Bundesrepublik aufgegangen war, sind nahezu vierzehn  Jahre ins Land gegangen. Ist man im Bildungssektor weiterhin engagiert, so fragt man sich selbst, ist von der Bildungstradition Ostdeutschland etwas geblieben? War die Schule Ostdeutschlands restlos im Bildungswesen der alten Bundesrepublik aufgegangen, oder findet man noch Reste, Spezifika, Traditionen? Haben vielleicht sogar Haltungen und Denkweisen, überdauert? Immerhin existierte das Schulwesen der seinerzeitigen Deutschen Demokratischen Republik von 1945 bis 1990.

 

1) Grenzen der Bildungspolitik in West wie Ost

 

Beide deutsche Staaten waren nicht völlig frei in ihren bildungspolitischen Entscheidungen. So erinnere ich mich an eine erziehungswissenschaftliche Publikation der alten Bundesrepublik im Jahre 1974. Dazumal waren 258.000 Schüler in 9.700 Schulen und 20 Ländern über schulische Leistungen in Erdkunde, Biologie, Chemie und Physik befragt worden. Die Leistungen der bundesdeutschen Schüler lagen sämtlich unter dem internationalen Durchschnitt. In der Sekundarstufe I befanden sie sich auf dem vorletzten Rangplatz, nur im achten Schuljahr Chemie rangierten sie etwas über den internationalen Mittelwerten. Die seinerzeit in der Bundesrepublik politisch Verantwortlichen registrierten diese Ergebnisse und zogen Schlussfolgerungen. Sie untersagten dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main, das für die Teilnahme an dem internationalen Leistungsvergleich verantwortlich zeichnete, die weitere Mitarbeit. Die Bundesrepublik musste sich von da an aus internationalen Bildungsvergleichen ausklinken. Noch in den neunziger Jahren gaben dortige Erziehungswissenschaftler in dem internationalen OECD/CERI-Bericht zu Protokoll, in neue „Curriculumabenteuer“ könnten und wollten sie sich nicht stürzen. Und das Resultat, sie verschliefen den Anschluss. Erst in den späten 90ziger Jahren sowie mit TIMSS II und III und später mit PISA waren internationale Schulleistungsvergleiche wieder auf die Tagesordnung gesetzt worden.

Im deutschen Osten bezog sich pädagogische Thema stets auf die Totalität der Gesellschaft. Dominant waren Praxisbeziehungen und die Anbindungen an die Wirtschaft. Wir verfügten über enge fachliche Beziehungen nicht nur zur Sowjetunion und zu anderen sozialistischen Staaten, sondern auch zu Ländern wie Frankreich, Schweden oder Finnland. Mit den letzteren war der Austausch besonders eng. Finnland beispielsweise hatte sich 1977 für die Gesamtschule entschieden, und noch heute sprechen die Finnen freimütig darüber, viel hätten sie hierbei von der DDR gelernt. Unter den spezifischen Bedingungen Ostdeutschlands, darunter jener der politischen Überwachung, war es gleichwohl nicht einfach gewesen, unbeeinflusst pädagogischen Konzeptionen nachzugehen. In der DDR-Akademie der Pädagogischen Wissenschaften war zwar eine Wissenschaftlerin speziell damit beauftragt gewesen, internationale Schulleistungsvergleiche zu verfolgen. Aber hieraus Schlussfolgerungen zu ziehen, das hatte sich die Ministerin für Volksbildung, Frau Margot Honecker, persönlich vorbehalten. Sie entschied, welche Texte in internationalen Schulvergleichen öffentlich zugänglich gemacht werden durften und welche nicht. Das verengte nachhaltig eine vorurteilsfreie Analyse. 1989/90 war dann für die DDR die Uhr abgelaufen. Ironischer Weise war dies auch der Zeitpunkt, da im nunmehr gesamtdeutschen Bildungswesen Aktivitäten zu Bildungsreformen erneut einsetzen konnten. Länder wie Schweden, Frankreich, Ungarn, Finnland, Schottland, Australien und Neuseeland hatten zwar bereits in den siebziger und achtziger Jahren derartige Reformen in die Wege geleitet. TIMSS,  PISA und ganz aktuell Bildungsstandards beherrschen allerdings erst neuerdings das Feld.

 

2) Ist der deutsche Osten auf dem Bildungssektor noch heute präsent?

 

Es war und ist für uns nach der Wende nicht einfach mitzuhalten, aber wir haben uns nicht abdrängen und das Gespräch nicht einfrieren lassen. Ostwissenschaftler diskutierten und diskutieren weiterhin mit. Erinnert sei an unsere Beiträge zum Forum Bildung in den Jahren 2001 und 2002. Unsere sechzehnseitige Stellungnahme hatte die Debatte bereichern können. Frau Bundesministerin Bulmahn sprach seinerzeit von „einer Fülle von bedenkenswerten Hinweisen und Anregungen...“, und sie entschied, diesen Text allen Mitgliedern des Forum Bildung zur Auswertung zu übergeben. „In der Hektik der Wendezeit“, so ein Abschnitt aus unserer seinerzeitigen Erklärung, „folgten Transformationen zumeist bundesdeutschen Mustern, die mit der jetzigen Bildungsreform nicht selten zur Disposition stehen. Man muss die DDR-Schule nicht idealisieren - sie hatte genügend andere Defizite -, aber hinsichtlich Wertschätzung von solider Allgemeinbildung, eines hohen Bildungsanspruchs in Naturwissenschaften, Technik (Polytechnik) und Informatik verfügte sie über Lösungsansätze, die der sorgfältigen Analyse und nicht der überhasteten Liquidierung bedurft hätten. Das gilt desgleichen für eine enge Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung, die größere Vielfalt und Flexibilität der Wege zu Abitur und Studium, für hohe Leistungsansprüche der Schule, untrennbar verknüpft mit Förderung aller Schüler, begabter wie zurückbleibender, differenzierte Wege für die Bildung von Spitzenbegabungen, für Breiten- und Spitzenförderung im Kinder- und Jugendsport. Auch der Kindergarten und die Sekundarstufe I verfügen, so Erfahrungen des verflossenen anderen deutschen Staates und anderer Länder vorurteilsfrei ausgewertet werden, noch über beträchtliche Reserven für eine kind- und jugendgemäße und zugleich rationelle pädagogische Gestaltung. Derzeitige Diskussionen um eine Abitur nach 12 Jahren erwecken den Eindruck, es handle sich hierbei lediglich um ein Stundentafel-Rechenexempel in der gymnasialen Oberstufe. Mitnichten. Der ganze Bildungsweg bedarf der Durchforstung. Zehn Jahre nach der Vereinigung sollte es möglich sein, Erfahrungen, die innerhalb eines partiell andersartigen, jedoch der deutschen Bildungstradition zugehörigen Systems gesammelt wurden, ohne Voreingenommenheiten zur Kenntnis zu nehmen“. Trotz unserer unbezweifelbaren Randposition war es uns also gelungen, ostdeutsche Erfahrungen mit in die aktuellen bildungspolitischen Debatten einzubringen. Den abschließenden Empfehlungen des Forum Bildung waren dann wörtlich Textpassagen zu entnehmen, die DDR-Erfahrungen repräsentieren. So beispielsweise: „Der Stellenwert von Mathematik und Naturwissenschaften an den Schulen muss erhöht werden. Das bedeutet auch, dass naturwissenschaftliche Fächer wesentlich problem- und praxisorientierter als bisher unterrichtet werden“ (S. 26).

Im erziehungswissenschaftlichen Bereich haben Ostwissenschaftler seit der Wende nicht wenige kleinere und größere Publikationen vorgelegt, die sich sehen lassen können. Ich erwähne das Buch von Evemarie Badstübner (Hrsg.): Befremdlich anders. Leben in der DDR (Karl Dietz Verlag Berlin 2000), zu dem unter anderem Dieter Kirchhöfer, Wolfgang Eichler und Gerhart Neuner Beiträge geleistet haben. Zu nennen sind zwei meiner Nachwende-Bücher, die die Debatten bereichert haben: Zwischen Wissenschaft und Politik. Ein Rückblick aus lebensgeschichtlicher Perspektive. Böhlau Verlag 1996 und Ressource Allgemeinbildung? Neue Aktualität eines alten Themas. Deutscher Studien Verlag, Weinheim 1999. Gerade erschienen ist das Werk: Kindheit in der DDR. Gegenwärtige Vergangenheit (Hrsgg. von Dieter Kirchhöfer, Gerhart Neuner, Irmgard Steiner und Christa Uhlig) (Peter Lang GmbH. 2003). Insgesamt haben daran dreißig Wissenschaftler mitgewirkt, darunter Helga H. Hörz/Herbert Hörz, Edith Ockel, Dieter Reiher, Dieter Wiedemann, Irmgard Zimmer, Klaus Peter Becker, Eberhard Mannschatz, Gerlinde Mehlhorn/Hans Georg Mehlhorn. Erwähnenswert ist desweiteren das Buch von Wolfgang Eichler. Der Stein des Sisyphos. Studien zur Allgemeinen Pädagogik in der DDR. LIT Verlag Münster - Hamburg - London. Erschienen ist das Buch von Günther Wilms: Das Bildungswesen der DDR. Ein Rückblick mit Anregungen für eine Bildungsreform in Deutschland. Berlin 2003. Zu nennen wäre des weiteren die enge Zusammenarbeit von Wissenschaftlern der Universität Göttingen mit Wissenschaftlern der ehemaligen DDR, gefördert und unterstützt vor allem von Prof. Dr. Dietrich Hoffmann. Am Beginn stand die Publikationsreihe „Erziehung und Erziehungswissenschaft in der BRD und der DDR“, der Band I: Die Teilung der Pädagogik (1945-1965), dann Band 2: Divergenzen und Konvergenzen (1965-1989) und schließlich Band 3: Die Vereinigung der Pädagogiken (1989-1995). In der Nachfolge ist eine ganze Serie von Publikationen entstanden, an der DDR-Wissenschaftler mitgewirkt haben. Das vorläufig letzte Werk in der Serie: „Utopisches Denken und pädagogisches Handeln“. Untersuchungen zu einem ungeklärten Verhältnis. Hrsgg. von Dietrich Hoffman und Reinhard Uhle. Verlag Dr. Kovac 2004. Ostwissenschaftler haben bis auf den heutigen Tag 133 wissenschaftliche Kolloquien veranstaltet, die das geistige Leben befruchteten. Dies ist bei weitem kein vollständiger Überblick. Nimmt man alles zusammen, den alltäglichen Disput, der unverzichtbar ist, größere wissenschaftliche Beiträge und gesellschaftliche Aktivitäten, so

brauchen wir unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen.

Man hatte es eigentlich nicht erwartet, aber etwa seit 2002 ist ein eklatanter Umbruch in der Beurteilung der DDR-Schule zu beobachten. Die Kritik am hiesigen Schulwesen sowie in den Medien führte zu eine Neubewertung der DDR-Schule. Tonangebend war zunächst die Frankfurter Allgemeine Zeitung, andere Presseorgane folgten. Alles, so dieses Organ, worüber nach der PISA-Studie diskutiert wurde, habe es in Deutschland schon einmal gegeben, und zwar in der DDR. In zwölf Jahren zur Reifeprüfung, Zentralabitur, Prüfung nach der zehnten Klasse, Betreuung in der Schule auch am Nachmittag. Eine Grundschule, die weniger als sechs Jahre braucht. Polytechnische Bildung. Wörtlich: „Das DDR-System sei schneller und straffer gewesen. Es habe durchaus Chancen für jedermann gegeben. Es habe eine solide naturwissenschaftliche Bildung vermittelt. Und der Lehrer sei nicht der Buhmann der Nation gewesen (Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 25.4.2002). Der Zeitung „Die Welt“ war zu entnehmen: „Das Schulwesen (der DDR) war übersichtlich und stringent organisiert. Die Lehrpläne und -ziele waren bis zum Abitur gleichermaßen verbindlich, die Leistungen vergleichbar. Die Lehrpläne bauten logisch aufeinander auf... Wer von Wismar nach Görlitz wollte, hatte nicht die Umstellungsprobleme, die heute Berlin von Brandenburg trennen...„ (Die Welt, vom 16.7.2002, S. 9). Oder die süddeutsche Zeitung: „Es spricht in der Tat viel dafür, dass die DDR in der PISA-Studie besser abgeschnitten hätte als Bremen oder Nordrhein-Westfalen. Und auch vor bayerischer Konkurrenz hätte sie sich nicht wirklich fürchten müssen. Schließlich wurde östlich der Elbe das beste Erbe der Arbeiterbewegung treu bewahrt: der Glaube an die heilbringende, erlösende Kraft des Wissens“ (Autorität und Polytechnik. Süddeutsche Zeitung, vom 19.6.2002, S. 15). Am schärfsten formulierte in dieser Debatte die „taz“. Die Schulkinder der DDR hätten es mit dem damaligen Leistungsvermögen auf einen durchschnittlichen IQ von 102 gebracht. Eine gesamtdeutsche Schülerschaft würde infolgedessen im Leseverständnis nicht Platz 22, wie jetzt, sondern Platz 3 erreicht haben (Nach PISA: Riesa, 7.2.2002).

 

3) PISA und kein Ende

 

Vom Forum Bildung, das nach gründlichen Analysen wichtige Empfehlungen erarbeitet hatte, ist derzeit kaum noch die Rede. Die vorgesehene Bereitstellung zusätzlicher Mittel hat nicht stattgefunden. Noch störender scheint die Forderung des Forum Bildung nach Zugang zur Bildung und den Erwerb von Bildung unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Nationalität sowie sozialer und wirtschaftlicher Situation gewesen zu sein. Die direkte Kritik an der frühen Weichenstellung im gegliederten Schulsystem, wonach integrierte Systeme in viel stärkerem Maße als bisher durch flexible Übergänge zwischen den Schulformen hätten wirksam werden können, fand erst recht keinen Anklang. Offenbar kehrt derzeit die Bundesrepublik zu ihren traditionellen Ritualen und Handlungsweisen zurück, und zu diesem Zwecke wurden erneut die altbekannten Rechtslinksfixierungen aus dem Schubfach geholt. Als repräsentativ für diesen Zweck kann das 2003 herausgegebene Buch „Mit der Spaßgesellschaft in den Bildungsnotstand“, von C. Ludwig und A. Mannes, Leibniz Verlag St. Goar, gelten. Das Werk präsentiert 17 polemisch gefasste Texte, die einen Aufbruch aus der Bildungsmisere eher verhindern als fördern. Mit zu den wichtigsten Beiträgen zählen: Die zwölf Lebenslügen deutscher Schulpolitik (Josef Kraus) oder Ganztagsschule - notwendiges Übel, aber doch ein Übel (Hans A. Schießer) oder Schwamm drüber? Oder: Bildung ohne „Ein-Bildung“ macht Ausbildung zur Einbildung (Reinhard Schmidt-Rost) oder Christliche Glaubensbildung als Grundlage einer menschlichen Bildung (Wolfgang Ellinghaus). Kenner der dortigen Schul- und Bildungspraxis hätten sich zu diesem Buchprojekt zusammengefunden, um neben den unterschiedlichen Ursachen der derzeitigen Bildungskrise auch Wege aus der Misere zu zeigen. Ob es um Achtung und Respekt vor den Lehrern geht, um christlichen Religionsunterricht, um den Sprachunterricht, um die Ganztagsschule, die nicht den Weg aus der Misere weise, um Förderung und Forderung, um das Fehlen von Vorbildern. Das Buch, so die Autoren, nehme kein Blatt vor den Mund, es spreche Klartext. Die vertretenen Positionen sind allerdings mit wenigen Ausnahmen extrem konservative. Sozialdemokratische Bildungspolitiker haben dem, so scheint es, wenig entgegenzusetzen. Sie sind in der Defensive.

Vor zwei/drei Jahren hatte die PISA-Studie der deutschen Schule ein verheerendes Zeugnis ausgestellt. Im internationalen Vergleich landeten deutsche Schüler auf dem 21. Platz. Seitdem hat sich kaum Wesentliches verändert. In keinem anderen Industrieland bestimmt die soziale Herkunft eines Schülers seine Bildungschancen so stark wie in Deutschland. Die Halbtagsschule ist hierzulande immer noch die Regel. Kaum ein Nachbarland verfügt über ein so geringes Betreuungsangebot für Kinder unter drei Jahren wie die Bundesrepublik, obwohl eine beträchtliche Zahl der Mütter gerne berufstätig wäre. Für 100 Kinder dieser Altersgruppe gibt es im Schnitt gerade 2,8 Plätze. Im deutschen Osten sind es infolge der DDR-Tradition 36,3, immer noch ein Betreuungsangebot für jedes dritte Kind, aber längst nicht mehr soviel wie in der Vergangenheit. Im letzten Kinderkrippenjahr müssten eigentlich alle Kinder die Möglichkeit haben, sich kostenfrei auf den Kindergarten vorzubereiten, aber dies ist immer noch nicht Realität. In Nordrhein-Westfalen sind es lediglich 1,9 Prozent und in Baden-Württemberg 1 Prozent. Die Hauptursache dafür ist, wirtschaftlich starke Länder, vor allem Bayern und Baden-Württemberg, halten weiterhin Kinderkrippen für einen sinnlosen Luxus. Anders bei den Kindergartenplätzen für die 3- bis 6-jährigen. Hier liegt Sachsen mit 99,4 Prozent an der Spitze, Thüringen mit 96 Prozent, Brandenburg mit 93,6 Prozent, aber auch Bayern mit 98,6 Prozent. Mit mehr als zehn Prozent der Schulkinder, die nie eine Vorschule besucht haben, hinkt Deutschland gleichwohl europaweit hinterher. Das wirkt sich besonders nachteilig auf sozial schwächere Familien und Einwanderer aus. Summa summarum, das wild wuchernde föderale Schulsystem Deutschlands, geschützt nach wie vor durch die unberührbare Kulturhoheit der Länder, dominiert weiterhin. Und erst recht bleibt die Aufgliederung der Schüler in Haupt-, Real- und Gesamtschüler ebenso wie die frühzeitige Fixierung des Weges in die gymnasialen Oberstufe.

Gleichwohl ist in den letzten Jahren einiges in Bewegung geraten. Lange Zeit war das achtjährige Abitur in den zur Überheblichkeit neigenden alten Bundesländern als Schmalspur-Abitur diskriminiert worden. Die Ostländer Thüringen und Sachsen hielten weiterhin daran fest. Widerwillig erteilte erst 1995 die Kultusministerkonferenz ihren Segen. Mittlerweile haben sich sogar alle unionsgeführten Länder für das achtjährige Gymnasium ausgesprochen. Auch auf anderen Gebieten, so bereits nicht nur von Presseorganen berichtet, greift man heutzutage auf das DDR-Bildungswesen zurück. Das Lernen sei dort insgesamt besser organisiert gewesen. Namentlich der längere gemeinsame Schulbesuch hatte Vorzüge. Erwähnt werden desweiteren die klare Fächerstruktur sowie polytechnische Bildung und die Verbindung der Schule mit dem Leben. Selbst in Bayern und Baden-Württemberg diskutiert man derzeit über Systeme für einen längeren Schulunterricht, und zwar über die vierte Klasse hinaus. Die kurze Grundschulzeit und die rasche Aufteilung der Schüler auf mehrere unterschiedliche Schulformen bedeute einen mindestens dreimaligen Bruch in den Entwicklungs- und Lernbedingungen im Alter von 3 bis zwölf Jahren. Neue Akzente deuten sich auch beim Übergang zur Ganztagsschule an. Ganztagsbetreuung, die im deutschen Osten Normalität war, zumindest bis zur vierten Klasse, wird nunmehr vom Staat aktiv gefördert. In der Regel dominiert in der Bundesrepublik gleichwohl immer noch die Halbtagsschule.

Obgleich wir begrüßen, dass auf bewährte DDR-Erfahrungen zurückgegriffen wird, die im übrigen nicht selten auch durch internationale Entwicklungen bekräftigt werden, waren und sind wir nicht DDR-Blind. Wir kennen sehr wohl die gravierenden Defizite der DDR-Schule, und diese sollten ebenfalls nicht übersehen werden. Vor allem die Dominanz des Ideologischen hatte den Horizont des Denkens im deutschen Osten verengt. Substantielle Bereiche des geistigen Lebens sind politisch normiert geblieben, und es war insgesamt nicht einfach, sich der geistigen Reglementierung zu entziehen. Ostdeutsche Erziehungswissenschaftler haben seit ihrer Integration in das bundesdeutsche System unterschiedliche Erfahrungen hinter sich, negative wie auch positive. Anregend war und ist für mich heute die Vielfalt von Ideen und Konzepten in der Bundesrepublik. Mag sein, manche preußischen Denkweisen haben im deutschen Osten nachgewirkt, aber gerade deshalb begrüße ich nunmehrige Offenheit und Lockerheit, auch im Streit. Dieser muss mitnichten extrem verbissen, schon gar nicht so geführt werden, als ob es um Leben und Überleben ginge. Manches an westdeutscher Lockerheit und Offenheit ist mir sehr sympathisch.  Jüngere Leute können sich offenbar leichter als wir Ältere von mancherlei Nachwirkungen deutscher Geschichte vollends befreien.

 

4) Erfahrungen mit dem bundesdeutschen System

 

Ostdeutsche Erziehungswissenschaftler haben in der Bundesrepublik mehrere Umlernprozesse hinter sich. So sie im Schuldienst bleiben konnten, wurden sie vielfältig und nachhaltig mit altbundesdeutschen Theorien und Konzepten konfrontiert. Selbst wenn man derartigen Zwängen nicht direkt ausgeliefert war, eine eigene Meinung wollte man sich gleichwohl bilden.

Noch 1998 war in der Zeitschrift „Die neue Schule“ im Kontext mit den wenig rühmlichen TIMSS-Resultaten zu lesen, wenn wir anstelle eng verstandener Leistung tatsächlich Bildung wollten, so wäre das mäßige Abschneiden bundesdeutscher Schüler bei schulischen Leistungsvergleichen geradezu als Erfolg zu werten. Der Autor wollte offenbar leistungsfreier Bildung das Wort reden, seinerzeit unter links orientierten Pädagogen eine verbreitete Auffassung. Die solchermaßen fixierten Erziehungswissenschaftler hatten Schwierigkeiten mit dem Leistungsgedanken in Schule und Hochschule. Die Erosion des Leistungsprinzips, die partiell selbst auf das Gymnasium übergegriffen hatte, war jedoch eine der Ursachen für Nivellierungstendenzen in der bundesdeutschen Schule und Hochschule. Mit deren Nachwirkungen haben derzeit Lehrer wie Wissenschaftler, aber natürlich auch die jungen Leute, immer noch zu kämpfen. Jene, die derartige Auffassungen vertreten haben, werden alsbald in der Minderheit sein, aber wohlmeinende und lebensfremde Theorien wirken immer noch nach.

Ostdeutsche Pädagogen haben sich nach der Wende vielfach verteidigen müssen, ihr Leistungsverhalten sei autoritär. Namentlich Nordrhein-Westfalen und dessen seinerzeitiger Ableger Brandenburg haben derartige Auffassungen vertreten. Sie verzichteten in Schulunterricht auf konkrete Themen- und Inhaltsangebote und gaben lediglich einen ziemlich allgemeinen Katalog von Anforderungen vor. Brandenburg und dessen Pate Nordrhein-Westfalen waren allerdings so ziemlich die einzigen Länder, die für den Weg zum Abitur keinerlei dedizierte Vorbedingungen stellten. Im Jahre 2002 sagte sich dann Brandenburg ziemlich rigoros von den unverbindlichen Plänen der neunziger Jahre los. Auch andere Ostländer, die solcherart Theorien mehr oder minder freiwillig gefolgt waren, wollen davon heute nichts mehr wissen. Denn wer sich von derartigen Selbstverwirklichungstheorien beeindrucken ließ, muss erneut umdenken. Auch die neue Generation von Rahmenlehrplänen Brandenburgs definiert nunmehr den „Umgang mit Leistungen im Fach und Leistungskultur an der Schule“ als einen Schlüsselbegriff.

Auch DDR-Kindergärtnerinnen sollten umlernen. Sie hatten sich nach der Wende von West-Spezialisten die langjährige DDR-Praxis nicht ausreden lassen, bis zum Ende des ersten Schuljahres könnten den Kindern elementare Lese-, Schreib- und Rechenfertigkeiten vermittelt werden, ohne dass diese Schaden an Geist und Körper nähmen. Dafür waren ihnen von Reformern rigoros die Leviten gelesen worden. Mit ihren antiquierten Vorstellungen von Schulvorbereitung bereits im Kindergarten würden sie den Kindern Schaden zufügen und deren Selbsttätigkeit und Selbstverwirklichung beeinträchtigen. Schulvorbereitung müsse vielmehr ausgedehnt werden, damit die Kinder ungestört zu sich selbst fänden. Eine reformpädagogisch inspirierte Bildungsministerin ostdeutscher Herkunft, aber westdeutscher Belehrung, forderte mit ministeriellem Nachdruck, es genüge, wenn Grundschüler bis zur vierten Klasse Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Heute wollen diese Berater und Spezialisten davon allerdings nichts mehr wissen. Eher ist nunmehr von gegenteiligen Extremen die Rede. Der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen beispielsweise verkündet, die Einschulung sei heutzutage bereits im vierten Lebensjahr möglich. Die übliche späte Verschwendung von Arbeitskraft könne man sich nicht mehr leisten. Mag sein, aber qualifizierte wissenschaftliche Untersuchungen zu diesen komplizierten und hochdifferenzierten Fragen habe ich bisher nicht lesen können, auch nicht bei diesem Autor.

Tatsache ist, in der DDR war Leistung stets ein positiv besetzter Begriff geblieben, und zwar in Schule und Hochschule. Bereits im 19. Jahrhundert lautete das von Karl Marx formulierte Distributationsprinzip in einer künftigen sozialistischen Gesellschaft „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen!“ Leistungsansprüche wurden nicht nur propagiert, sondern stets mit Förderung verknüpft, vom Kindergarten bis in Schule und weiterführende Bildung. Keiner soll zurückbleiben! - dies war eine ernst zu nehmende Losung, obgleich Leistungsdifferenzierung auch im deutschen Osten geblieben ist. Vor allem nach oben hin war sie in zahlreichen Bereichen im Hinblick auf Spitzenleistungen gefördert worden. Es existierten unterschiedliche Formen der Förderung von Leistungen, und nicht nur in jenen Bereichen, wo heutzutage damit viel Geld zu verdienen ist. Die frühzeitige pauschale Sortierung der Schüler, wie sie derzeit im mehrgliedrigen Schulsystem erfolgt, war gleichwohl bewusst vermieden worden. Noch in den späten DDR-Jahren hatte das Leipziger Institut für Jugendforschung einen Anstieg wesentlicher Seiten der geistigen Leistungsfähigkeiten registrieren können. Gleichwohl haben sich ostdeutsche Pädagogen nach der Wende der frühzeitigen Sortierung nach den in der Bundesrepublik bestehenden Schulformen anpassen müssen.

Eine der neueren Thesen lautet, die Zeit von Allgemeinbildung sei definitiv abgelaufen. Als Begründung hierfür war vielfach die Beschleunigung wissenschaftlicher Erkenntnisse ins Feld geführt worden. Aber existiert heutzutage nicht nach wie vor Basiswissen, das bleiben wird. Wenn man Schule nur anhand branntneuer Theorien beurteilen will, kann man sie zumachen. Der größte Anteil von allgemeiner Schulbildung ist immer noch Basisbildung, und erst dann kommen die Neuheiten, auf die die Schule ebenfalls eingehen muss. Dieser Disput ist, was Schule betrifft, unverzichtbar; denn in modernen Streitgesprächen wird die Möglichkeit von Bildung und erst recht die eines Bildungskanons bestritten. Auch „Entkanonisierung“ war zu einem Schlagwort bundesdeutscher Bildungsdebatten geworden. Der Disput über ein modernes Kerncurriculum ist erneut im Gange, und von Lehrplänen ist ebenfalls die Rede. Schule und Hochschule gehen neue Wege, aber nicht alles Bewährte muss in den Orkus gekippt werden.

Die DDR-Schule hat desweiteren Naturwissenschaft und Technik zu keiner Zeit als zweitrangig bewertet. Erst unter bundesdeutschen Einflüssen war auch im deutschen Osten der Anteil dieser Fächer radikal zusammengestrichen worden. Nunmehr müssen sich die Verantwortlichen erneut um diese Fächer bemühen, schon deshalb, damit sie bei internationalen Vergleichen mithalten können. Die einseitige geisteswissenschaftliche Orientierung der bundesdeutschen Schule, namentlich jene des alten Gymnasiums, wie sie der „Tutzinger Maturitätskatalog“ lange Jahre vertreten hatte, ist heutzutage ebenfalls nicht mehr geeignet, die heranwachsende Generation auf die Erfordernisse der neuzeitlichen Naturwissenschaft und Technik vorzubereiten. Als Nebenfächer können diese Bildungsinhalte längst nicht mehr gelten. Die neuen Grundschullehrpläne, die die Länder Brandenburg, Berlin, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern gemeinsam vorgelegt haben, gehen hauptsächlich auf ostdeutsche Lehrplantraditionen zurück. Der Rahmenplan, den ich hinsichtlich Biologie durchgearbeitet habe, legt nunmehr großen Wert auf höhere Verbindlichkeit und Vergleichbarkeit der Bildungsinhalte und auf deren zunehmende Vereinheitlichung. Noch ausgeprägter werden die neuen Bildungsstandards derartigen Vereinheitlichungstendenzen fordern. Für den mittleren Schulabschluss liegen sie nach der zehnten Klasse in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch vor. Weitere Standards sollen in diesem Jahr folgen.

Analysiert habe ich desweiteren die Pläne Brandenburgs, Thüringens, Sachsens, Nordrhein-Westfalens, Bayerns, dort neben dem bayerischen Gymnasium auch die sechsstufige Realschule, und Hessen. Die zu beobachtende Vielfalt ist auch für mich beeindruckend. Die Pläne Brandenburgs, Thüringens und Sachsens beispielsweise sind mit den seinerzeitigen DDR-Lehrplänen noch am ehesten vergleichbar, insbesondere der Plan Sachsens. Der Brandenburger Plan allerdings war erst, wie schon vermerkt, nach der 2002 erfolgten grundlegenden Neufassung mit anderen Plänen vergleichbar geworden. Noch 1992 war dieser Plan ein Grobkonzept ohne differenzierte Planungsvorschläge für Lehrer wie Schüler. Gut überschaubar ist der hessische Plan für den Bildungsgang Realschule, der alles Notwendige präsentiert, ohne allzu sehr in die Einzelheiten zu gehen. Den größten Planungsaufwand betreiben die bayerischen Lehrpläne, namentlich jene des Gymnasiums. Die dortige Planung umschließt vier Ebenen, jene des Gymnasiums im Ganzen, jene der Unterrichtsfächer und fächerübergreifenden Bildungs- und Erziehungsaufgaben, den Rahmenplänen und schließlich die Fachlehrpläne. So interessant die einzelnen Lehrplanvarianten sind, mit den hochdifferenzierten Planungen für 16 Bundesländer, aufgeschlüsselt in alle Fächer und Stufen, muss ein extrem hoher Aufwand betrieben werden. Trends in Richtung Vereinheitlichung sind heutzutage anhand der jetzt bereits vorliegenden Bildungsstandards festzustellen, und die oben zitierten Rahmenpläne weisen diesen Weg. Muss das Ganze immer weiter aufgedröselt werden, bis es kaum noch übersehbar ist? Bis in das schulische Detail hinein regulieren heute bundesweit 2400 die verschiedenen Lehrpläne. Die Bände, die fixieren, was die Lehrer lehren und die Schüler lernen sollen, werden immer voluminöser. Wäre es nicht bereits ein bedeutender Schritt nach vorn, wenn, sagen wir, fünf verschiedene Varianten derartiger Fachlehrpläne zur Auswahl stünden? Die Differenzierungsmöglichkeiten wären immer noch beträchtlich, und ganze Armeen qualifizierter Pädagogen könnten sich den Schülern und nicht den Papieren widmen.

 

Ich komme zum Schluss. Pädagogisches Wirken war immer eine Herausforderung, nicht nur für Lehrer und Schüler, sondern auch für die Eltern und die Gesellschaft. Wir sollten in West wie Ost dazu beitragen, den kritischen Disput zu fördern.

 

 

 

27.04.2003

 

Weder Fisch, noch Fleisch. Nationale Bildungsstandards als Ausweg aus der PISA-Krise

 

Einhundertsechsundvierzig eng beschriebene Seiten umfasst die am 18.Februar 2003 von Edelgard Bulmahn, Karin Wolf und Eckhard Klieme vorgestellte Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Damit würde endlich der Weg für eine systematische Qualitätssicherung des Unterrichts geebnet. Denn traditionelle Lehrpläne, in Deutschland seit mehr als zweihundert Jahre mit dieser Aufgabe betraut, vermögen solches nicht mehr zu leisten. Nun sind diese, vergegenwärtige ich meine Analysen neuer Lehrpläne Brandenburgs, Thüringens, Sachsens und Nordrhein-Westfalens, trotz mancher Fortschritte tatsächlich überaus heterogen, partiell weitschweifig und ins fachliche Detail gehend, andererseits wiederum, etwa in jenen Nordrhein-Westfalens, grobmaschig, konkrete Fixierungen vermeidend und partiell den Lehrer überfordernd. Zudem, produziert werden Lehrpläne in Deutschland in 16-facher Ausfertigung, in der Regel für jeweils mindestens vier Schularten. Ganze Heerscharen von Pädagogen sind damit befasst und gebunden. Wäre es infolgedessen nicht wohlbegründet, dieser Lehrplanmacherei mittels nationaler Bildungsstandards den Garaus zu bereiten? So interpretierten ganz Eifrige die vorgestellte Expertise, forderten schnellstmöglich bisherige Lehrpläne abzuschaffen und durch bundesweite Kriterien zu ersetzen. Aber so schnell schießen auch die heutigen Nachfahren der Preußen nicht.

Dem würde zwar PISA entgegenkommen, denn es orientierte sich ganz bewusst, was viele übersehen haben, nicht an deutschen Lehrplänen, sondern an internationalen Lernleistungskontrollen, und diese gibt derzeit die OECD, die Organisation for Economic Co-Operation and Development, vor. Sie setzt vor allem auf den Produktionsfaktor Bildung, auf Ökonomisierung, auf den weltweiten wissenschaftlichen Wettbewerb und, bildungstheoretisch gesehen, hauptsächlich auf den angelsächsischen Pragmatismus. Für diesen aber ist das Entscheidende Methodenkompetenz und nicht so sehr, wie in Deutschland, die Aneignung stofflicher Inhalte, also der Erwerb von Wissen auf Vorrat. Die extrem schwachen PISA-Leistungen deutscher Schüler haben mehrere Ursachen, aber eine davon war die überfallartige Konfrontation von Lehrern und Schülern mit bis dahin hierzulande, und zwar in West wie Ost, ungewohnten Aufgabenstellungen, die eher pragmatischer angelsächsischer Denkweise entsprochen haben. Nun übersehe ich nicht deren Vorzüge und meine daher, vieles sollte ernsthaft geprüft, praktisch angewendet werden. Für bedenklich hielte ich es allerdings, von einem Extrem in das andere zu fallen. Die bisherigen PISA-Aufgaben, die von relevanten  Denkansätzen dominiert waren, umfassten nur wenige, wenn auch wichtige Bildungsbereiche. Diese entwerten daher die deutsche Tugend der Wertschätzung allseitiger und harmonischer Allgemeinbildung mitnichten.

Der weiteren Diskussion bedarf die Frage, ob Lehrpläne, wenn Bildungsstandards vorliegen werden, überhaupt noch eine Funktion haben sollen. Nach  derzeitigen Vorstellungen der Autoren sollen diese Minimalstandards sein, obwohl an anderer Stelle an Regelstandards mit mehreren Stufen ebenfalls gedacht wird. Was die Installierung dieser neuen Bildungsstandards betrifft, so wird derzeit ein Zeithorizont von zehn Jahren ins Auge gefasst. Nun wird oft übersehen, Standards sind hierzulande nicht völlig neu. Für den mittleren Schulabschluss hat es sie für ausgewählte Fächer bereits seit dem 12.05.1995 gegeben. Soweit ich sehe, haben sie für die Erarbeitung von Lehrplänen bereits eine Rolle gespielt, und nicht nur eine negative. Daran kann man anknüpfen; denn es muss nicht alles neu erfunden werden. Hinsichtlich künftiger Lehrpläne jedoch sind die Aussagen derzeit noch fließend. Die einen formulieren, zunächst sollten Lehrpläne beibehalten werden, andere sagen unumwunden, auf Lehrpläne werde auch künftig nicht verzichtet werden können. Die nationalen Bildungsstandards hätten zwar eine Leitfunktion, aber diese sei eingeschränkter als die von Lehrplänen, und ohne sie werde auch weiterhin die unverzichtbare Kanonisierung von Allgemeinbildung nicht auskommen. Es bedürfe demzufolge einer Doppelstrategie, die Bildungsstandards und Lehrpläne umfasse. Letztere sollten dann schrittweise mehr in Richtung Kerncurricula profiliert werden und Hand in Hand mit den Standards agieren. Desweiteren ist von konkretisierender Lehrplanung durch die Lehrkräfte selbst die Rede, ebenfalls von einem Schulcurriculum. Diese sollte mehr Freiraum für die Schule schaffen. Gut und schön, aber nimmt man dies alles wörtlich, so wird künftig der Lehrer anstelle eines Lehrplanes mit drei Plänen zu tun haben müssen: mit den verbindlichen zentralen Bildungsstandards, mit ebenso verbindlichen Lehrplänen oder Kerncurricula der 16 Länder und schließlich mit den schuleigenen Lehrplänen. Anstelle einer Bindung von Lehrern, Schülern und Eltern wie bisher wird künftig also eine dreifache treten. Hinzu kommt noch viertens eine vorgesehene wissenschaftliche Agentur oder ein wissenschaftliches Kompetenz-Zentrum, das sich mit den Standards befassen soll. Nur an einer Stelle, und dies ganz, ganz vorsichtig, jedenfalls mit großem Respekt vor der bestehenden Rechtsordnung im Bildungswesen und der Länderdominanz, werfen die Autoren die Frage auf, ob denn auch künftighin alles sechzehnfach entwickelt werden müsse. Selbst für die privilegierten Bildungsstandards ist dies derzeit noch nicht eindeutig entschieden. Die kürzlich erfolgte Absage der christlich-sozial dominierten Länder an Gemeinsamkeiten des Forum Bildung lässt daran jedenfalls zweifeln.

Sehr überzeugend ist das Ganze noch nicht. Allzuviel scheint mit heißer Nadel genäht zu sein. Findet man keine besseren und vor allem übergreifenden Lösungen, lässt sich jetzt schon voraussagen, die ohnehin bereits voluminösen Papierberge werden weiter ins Unermessliche wachsen. Davon jedenfalls profitieren Schule und Unterricht kaum, eher läuft das Ganze auf zusätzliche Belastungen hinaus, und ändern wird sich wenig oder nichts.

 

 

 

Einheit der Bildungsreform und Vielfalt der Reformvorschläge. In : Ökonomisierung der Wissenschaft. Beltz 2003

 

Hatte man vor Monaten die Zeitungen aufgeschlagen, so standen noch TIMSS und PISA sowie Bildung und Forum Bildung im Zentrum der Debatte. Seit der  Jahrhundertflut im Norden Tschechiens, in der Donauregion und in großen Gebieten Ostdeutschlands war jedoch das Bildungsthema in den Hintergrund abgedrängt worden. Durch das sächsische Grimma stürzende vier Meter hohe Wassermassen waren seit Menschengedenken dort nicht beobachtet worden. Sie rissen Häuser mit sich fort, zerstörten Brücken und hinterließen in der ganzen Region eine Schneise der Verwüstung. Derzeit ist noch nicht abzusehen, wie und bis wann die Milliardenschäden behoben werden können. Diese Katastrophen, die dramatische Bundestagswahl und die Schwierigkeiten der neu gewählten Fraktionen des Bundestages, Tritt zu fassen, haben mit dazu beigetragen, dass Bildungsfragen ins Abseits gedrängt wurden. In die Schlagzeilen werden sie offenbar so schnell nicht wieder kommen, und die Gefahr ist daher groß, dass die hoffnungsvollen Ansätze des Forum Bildung zu Randthemen verkommen. Da dies in der Geschichte der alten Bundesrepublik schon des Öfteren geschehen ist, sind die Erziehungswissenschaften in besonderer Weise gefordert, aktiv gegenzusteuern. Hierzu einen Beitrag zu leisten, ist ein Anliegen der vorliegenden Publikation. Sie konzentriert sich auf drei Fragen:

1)      1)     Forum Bildung auf dem Wege?

2)      2)     Initiativen und Ernüchterung sowie

3)      3)     Wiederkehr der Selbstblockierung?

 

1) Forum Bildung auf dem Wege?

 

Alarmierende Signale, den Zustand von Bildung betreffend, hat es schon des Öfteren gegeben. So berichtete beispielsweise die Zeitung „Die Zeit“ vom 20. September 1974 es seien 258 000 Schüler in 9700 Schulen und 20 Ländern über ihre Kenntnissen in Erdkunde, Biologie, Chemie und Physik befragt worden. Die Leistungen der deutschen Schüler lagen sämtlich unter dem internationalen Durchschnitt. In Sekundarstufe II befanden sie sich auf dem vorletzten Rangplatz, nur im achten Schuljahr Chemie rangierten sie etwas über den internationalen Mittelwerten. Die seinerzeit in der Bundesrepublik politisch Verantwortlichen registrierten diese Ergebnisse und zogen Schlussfolgerungen: Sie untersagten dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschungen in Frankfurt am Main, das für die Teilnahme an dem Internationalen Leistungsvergleich als verantwortlich zeichnete, die weitere Mitarbeit. Damals bereits, also vor 28 Jahren, hatten Länder wie Schweden, Frankreich, England, Ungarn, Finnland, Schottland, Australien und Neuseeland die bundesdeutschen Unterrichtserfolge um ein Beträchtliches übertroffen. Finnland war dazumal bereits mit im Spiele, aber die Spitze, wie bei der jetzigen PISA-Studie, hatte es noch nicht erklommen. Von 1964 bis 1977 bereitete es eine große Bildungsreform vor und sah sich in der Welt um, darunter übrigens auch in der seinerzeitigen DDR, die mit finnischen Schulleuten einen sachlichen Austausch pflegte. Für die Einführung der Gesamtschule hatten sich finnische Verantwortliche nach längeren Debatten 1977 entschieden.

In jenen Jahren war international Bewegung in Bildungsdebatten gekommen, und ein erneuter Reformschub begann sich abzuzeichnen. Verantwortliche der alten Bundesrepublik hingegen hielten Reformen für überflüssig, und sie klammerten sich an den beträchtlich überbewerteten Status quo. Noch in den neunziger Jahren gaben bundesdeutsche Erziehungswissenschaftler in dem internationalen OECD/CERI-Bericht zu Protokoll, sie dächten nicht daran, sich in neue „Curriculumabenteuer“ zu stürzen (Skilbeck 1992, S. 43). Und sie verschliefen den Anschluss. Das Desaster, jahrzehntelang unter der Decke gehalten, wurde schließlich in den späten neunziger Jahren sowie nach der Jahrhundertwende mit TIMSS II und III (Third International Mathematic an Science Studies) sowie mit PISA (Programme for International Student Assessment) offenkundig. Seitdem sind auch in der Bundesrepublik, obgleich arg verspätet, längst überfällige Reformen wieder auf die Tagesordnung gesetzt geworden. So konnten beispielsweise die Kultusminister die seit den siebziger Jahren nichtendenwollenden Debatten über nivellierende „Punktekonten“ und „Punktearithmetik“ in der gymnasialen Oberstufe in den späten neunziger Jahren beenden. Die 1972 aufgehobene Belegungspflicht von Kernfächern wurde wieder eingeführt. Bis zum 13. resp. 12. Schuljahr sowie für die Abiturprüfung müssen nunmehr erneut obligatorisch Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache belegt werden. In der Diskussion ist ein weiteres verbindliches Prüfungsfach sowie überhaupt die Abschaffung des Kurssystems in der gymnasialen Oberstufe. Desweiteren, um noch eine der überfälligen Korrekturen zu erwähnen, initiierten die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung sowie das Bundesbildungsministerium eine bundesweite Expertise zur Steigerung der Effizienz des naturwissenschaftlichen Unterrichts, die gut begründete Vorschläge für eine effektive Unterrichtsgestaltung unterbreiteten. Seitdem ist Bewegung in die bundesdeutsche Bildungslandschaft gekommen, und sie mündete schließlich im Jahr 2000 in eine große Bildungsreform.

Dieser Reform, getragen vom Forum Bildung,  standen gleichberechtigt die Bundesministerin Edelgard Bulmahn und der bayerische Wissenschaftsminister Hans Zehetmair vor. Die bis dahin kaum überwindbaren Kontroversen zwischen mehr sozialdemokratisch und mehr konservativ orientierten Ländern schienen nahezu vergessen zu sein. Man konnte nahezu den Eindruck gewinnen, der zweijährige freimütige Diskurs habe die Fronten aufgelockert. Die aktive Mitarbeit zahlreicher Erziehungswissenschaftler und Lehrer ermöglichte es zudem, 14 zum Teil voluminöse Bände zu akuten Bildungsthemen mit mehr als 2500 Druckseiten vorzulegen. Auch die Leibniz-Sozietät e.V., eine Nachfolgeeinrichtung der DDR-Akademie der Wissenschaften, konnte sich an dieser Debatte mitbeteiligen. Deren Stellungnahme, so Frau Ministerin Bulmahn, habe eine „Fülle von bedenkenswerten Hinweisen und Anregungen“ enthalten. Sie lies daher das 16-seitige Papier vervielfältigen und entschied, es den Mitgliedern des Forum Bildung zur Auswertung zu übergeben. Die Empfehlungen der Leibniz-Sozietät konzentrierten sich auf Aufklärung und Bildung, auf Allgemeinbildung und Basisbildung, auf Gleichheit der Bildungschancen, auf neue Lern- und Lehrkultur, auf Lehrer und Lehrerbildung als Schlüssel zur Bildungsreform, auf strukturelle Veränderung der Erwachsenenbildung und schließlich auf Demokratie, Humanismus und Innovation - Hochschulen im 21. Jahrhundert. Zum sachlichen Umgang mit Erfahrungen der DDR-Schule haben wir unter anderem festgehalten: „In der Hektik der Wendezeit folgten Transformationen zumeist bundesdeutschen Mustern, die mit der jetzigen Bildungsreform nicht selten zur Disposition stehen. Man muss die DDR-Schule nicht idealisieren - sie hatte genügend andere Defizite -, aber hinsichtlich Wertschätzung von solider Allgemeinbildung, eines hohen Bildungsanspruchs in Naturwissenschaften, Technik (Polytechnik) und Informatik verfügte sie über Lösungsansätze, die der sorgfältigen Analyse und nicht der überhasteten Liquidierung bedurft hätten. Das gilt desgleichen für eine enge Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung, die größere Vielfalt und Flexibilität der Wege zu Abitur und Studium, für hohe Leistungsansprüche der Schule, untrennbar verknüpft mit der Förderung aller Schüler, begabter wie zurückbleibender, differenzierte Wege für die Bildung von Spitzenbegabungen, Breiten- und Spitzenförderung im Kinder- und Jugendsport. Auch der Kindergarten und die Sekundarstufe I verfügen, so Erfahrungen des verflossenen anderen deutschen Staates und anderer Länder vorurteilsfrei ausgewertet werden, noch über beträchtliche Reserven für eine kind- und jugendgemäße und zugleich rationelle pädagogische Gestaltung. Derzeitige Diskussionen um ein Abitur nach zwölf Jahren erwecken den Eindruck, es handle sich hierbei lediglich um ein Stundentafel-Rechenexempel in der gymnasialen Oberstufe. Mitnichten, der ganze Bildungsweg bedarf der Durchforstung. Zehn Jahre nach der Vereinigung sollte es möglich sein, Erfahrungen, die innerhalb eines partiell andersartigen, jedoch der deutschen Bildungstradition zugehörigen Systems, gesammelt wurden, ohne Voreingenommenheiten zur Kenntnis zu nehmen“.

In dem abschließenden Dokument des Forum Bildung wurde das entwickelte Reformkonzept in zwölf Empfehlungen zusammengefasst. Sie akzentuierten so wichtige Punkte wie die entschiedene Aufwertung der Kindergärten und Kindertageseinrichtungen, und zwar nicht nur der Betreuung wegen, sondern vor allem als unverzichtbare Erziehungsstätten. In der alten Bundesrepublik jedoch sind sie nach wie vor dem Sozialbereich zugeordnet. Erst neuerdings kommt die Diskussion über ein modernes Konzept frühpädagogischer Bildung in Gang. In anderen Ländern, darunter im deutschen Osten, fungieren sie längst als unverzichtbare Bildungsinstitutionen. Nach der Bundestagswahl wollen SPD und Grüne, so das Wahlversprechen, 10 000 Ganztagsschulen finanzieren (die es im deutschen Osten ebenfalls bereits gegeben hat, darunter unter anderem in Form der durchgängig üblichen Schulhorte). Die bundesweite Einführung einheitlicher Bildungsstandards soll ebenfalls durchgesetzt werden. Mathematik soll das erste Fach mit länderübergreifendem verbindlichem Leistungsprofil werden. Desweiteren akzentuierten die Empfehlungen die entschiedene Aufwertung der Grundschule, desgleichen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer, die in der Bundesrepublik partiell immer noch als Randfächer gelten. Deutlich aufgewertet werden soll die Bedeutung des Pädagogenberufs sowie die Verbesserung der pädagogischen und didaktischen Ausbildung der Lehrer. Und schließlich, um nur noch eine weitere der zwölf Empfehlungen  zu erwähnen, wird die gleiche und gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Bildungsprozessen hervorgehoben. Wir wollen es damit bewenden lassen; denn das 41-seitige Dokument bedürfte der differenzierteren Erläuterung, die gleichwohl das eigene Lesen nicht ersetzen kann (Empfehlungen des Forum Bildung 2001).

 

2) Initiativen und Ernüchterung

 

Nach 1990 galt es weithin als selbstverständlich, die institutionelle Verfasstheit der alten Bundesrepublik müsse „Referenzgesellschaft“ für den Umbau in Ostdeutschland sein. Auch im Hinblick auf den radikalen Umbau des ostdeutsche des Bildungs- und Wissenschaftssystems solle dies gelten, und man sprach daher von nachholender Modernisierung (Transformation in der ostdeutschen Bildungslandschaft, 2002, S. 11). Tatsächlich jedoch hatten sich die Problemlagen in Deutschland-Ost, wie im übrigen auch in den anderen postsozialistischen Ländern, als wesentlich komplizierter erwiesen als die einfache Übertragung bundesdeutscher Realitäten. Die rasche Angleichung Ostdeutschlands an die westliche Gesellschaft erfüllte sich daher nicht. Ganz im Gegenteil, den „Transformationsexperimenten“ in Ostdeutschland folgten gravierende Verunsicherungen des sozialen Lebens. Wenn es nur darum gegangen wäre, überzogene Ideologisierungen zu eliminieren, hätte, so beteiligte Erziehungswissenschaftler, ein derartiger Großversuch nicht stattfinden müssen (Umbau, Abbau, Aufbau. Neues Deutschland, vom 24./25. August 2002, S. 41). So aber führte dieser unter anderem zu einem bis dahin in Friedenszeiten kaum registrierten Geburtenrückgang. Während beispielsweise 1991/92 in Brandenburg noch  38 350 Schulanfänger registriert werden konnten, waren es 2000/01 nur noch 15 330. Die Abwanderung der Bevölkerung mit schulfähigen Kindern dauert an. Und dies, nachdem die DDR-Einheitsschule liquidiert worden war und die Aufsplitterung der Schülerpopulation auf die in der alten Bundesrepublik üblichen Schulformen: Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Gesamtschule - stattfand. Unvermeidlich, so die Autoren, stünde mithin ein zweiter Transformationsprozess auf der Tagesordnung. Zudem würden die Verhältnisse, die sich in Ost-Deutschland herausbildeten, unvermeidlich Rückwirkungen auf die westdeutschen Bundesländer haben.

Kürzlich charakterisierte Hans N. Weiler, der in Kalifornien lehrte und von 1993 bis 1999 als Rektor der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt(Oder) amtierte, die bundesdeutsche Erziehungswissenschaft als „selbstzufriedene Disziplin“. Verständlicherweise traf er damit auf heftigen Widerspruch. Sicher muss man im einzelnen differenzieren, aber soweit ich mittlerweile aus eigener Anschauung zu urteilen in der Lage bin, so liegt Weiler nicht ganz daneben, wenn er offenkundige Defizite der bundesdeutschen Erziehungswissenschaft mit auf Blockierungen infolge „verheerender Indifferenz der Wissenschaft gegenüber der Praxis ihres Gegenstandes“, auf „ganz besondere Anhänglichkeit an ihre geisteswissenschaftlichen Traditionen“, auf „bildungspolitische Grabenkämpfe der sechziger und siebziger Jahre in der alten Bundesrepublik“ und schließlich auf die „Auseinandersetzungen um die Gesamtschule“ zurückführt (Weiler, 2002, S.  17). Die partiell ignorante „Transformation“ der ostdeutschen Bildungslandschaft ist davon massiv betroffen worden.

Als weiteres Exempel hierfür könnten auch widersprüchliche  Neufassungen von Lehrplänen angeführt werden. Die vorläufigen Rahmenpläne Brandenburgs beispielsweise, seinerzeit stark von den nordrhein-westfälischen „Paten“ Brandenburgs beeinflusst, waren seit 1992 nicht verändert worden. Außerdem handelte es sich um überaus vage Planvorgaben. „Im Unterschied zu zentralistisch vorgeplanten Lehrplänen“, so die Verfasser, „beinhaltet der Rahmenplan keine differenzierten Themen- und Inhaltsangebote, sondern einen Katalog von Anforderungen, dem die Schülerinnen und Schüler am Ende jeweils einer Doppeljahrgangsstufe gerecht werden sollen“ (Vorläufiger Rahmenplan Deutsch 1992, S. 10). Den Lehrern war übertragen worden, diese im Hinblick auf den tatsächlichen Unterricht zu konkretisieren, und sie waren damit vielfach überfordert. So bezweifelten sie unter anderem, wie bei derart pauschalen Vorgaben das notwendige fachliche Niveau im Abitur erreicht werden könne.

An reformpädagogisch inspirierte NRW-Konzepte hatten sich Brandenburger Verantwortliche am treuesten zu halten versucht, und sie kamen damit in beträchtliche Schwierigkeiten, nachdem auch dortzulande Lernansprüche wieder zur Geltung kamen, unter anderem eine Abschlussprüfung nach der 10. Klasse. PISA-E (Ergänzung) schließlich, der Leistungsvergleich zwischen den einzelnen Ländern der Bundesrepublik, brachte es an den Tag. Brandenburg rangiert mittlerweile an vorletzter Stelle, allerdings noch vor Bremen. Jetzt war man froh, dass man wenigsten damit begonnen hatte, neue Rahmenlehrpläne, beginnend für die Sekundarstufe I, zu erarbeiten. Diese sehen nunmehr differenziertere Anforderungen und genauere Vorgaben für den Unterricht als bisher vor (Rahmenlehrplan Deutsch, Sekundarstufe I). Mittlerweile fasste 1999/2000 Nordrhein-Westfalen ebenfalls die Lehrplanvorgaben für die Sekundarstufe II neu (Sekundarstufe II, Gymnasium/Gesamtschule. Richtlinien und Lehrpläne. Deutsch). Diese betonen gleichermaßen fachliche Grundlagen und Schülerorientiertheit. Gleichwohl wird das fachspezifische wissenschaftspropädeutische Grundlagenwissen stärker akzentuiert als vordem. Auf differenzierte Schuljahrespläne verzichten diese Pläne allerdings weiterhin. Vorgeschrieben bis ins Detail werden lediglich die Abiturprüfungen.

Andere neu gefasste Lehrpläne wurden von vorneherein straffer konzipiert, so die Lehrpläne der Thüringer Regelschule (Thüringer Kultusministerium. Lehrplan für die Regelschule und für Förderschule mit dem Bildungsgang der Regelschule. Deutsch 1999). Sie setzen auf deutlich artikulierte und überschaubare Lernansprüche. Mit am weitesten in dieser Hinsicht geht der neue Lehrplan für das Gymnasium im Freistaat Sachsen (Lehrplan Gymnasium. Gewichtete Fassung. Biologie. Klassen- und Jahrgangstufe 5-10. Juni 2001). Er legt hohen Wert auf anspruchsvolle Grundkenntnisse und kommt in dieser Hinsicht der DDR-Lehrplantradition am nächsten. Die ab Klassenstufe 8 angebotenen Profile und vertiefte Fachkenntnisse im Grundkurs Jahrgansstufe 11 sowie im Leistungskurs der Jahrgangsstufe 11 und 12 werden differenziert ausgewiesen. Damit korrespondieren Ansprüche auf selbständiges und eigenverantwortliches Lernen. Der Freistaat Sachsen legt Wert darauf, er habe sich nicht dem Druck von Interessenvertretern gebeugt. Sachsens Lehrer seien Angestellte geblieben. Leistungsprämien der Lehrer wurden nach einer Bewertung durch den Schulleiter vergeben, ebenso Höhergruppierungen. „Die Ausrichtung der Personalstruktur und der verfügbaren finanziellen Ressourcen an der Qualitätssteigerung“, so Staatsminister Dr. Matthias Rößler, „haben Priorität vor ideologischen Schattenkämpfen“ (PISA E: Sachsen war die eigentliche Überraschung“, 2002). Offenbar scheint es kein Zufall zu sein, dass die Fachleistungen der sächsischen Schule durchaus mit jenen Bayerns und Baden-Württembergs vergleichbar sind.

Ein konzeptionsloses bildungspolitisches Hin und Her war in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts allerdings auch in nicht wenigen anderen Ländern zu beobachten gewesen. Dazumal war aus den USA unter Begriffen wie „educational renewal“ eine Bewegung aufgegriffen worden, deren Kennzeichen eine weitgehende Negation des bisher im Bildungswesen Erreichten war. Bildung sollte „entstaatlicht“, dezentralisiert und als „Bewegung von unten“ gestaltet werden. Im Zentrum müssten die spontanen Interessen des Kindes stehen. Auf gesamtstaatliche Steuerung des Bildungswesens, auf obligatorische Standards und auch auf Lehrpläne sollte indes verzichtet werden. Derartige Ideen waren vor allem in Ländern aufgegriffen worden, die sich der Bewegung des „Vom Kinde aus“ verpflichtet fühlten. Für Sowjetrussland war dies bekanntlich in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Fall gewesen. Derartige Konzeptionen sind unter dem Einfluss von Gorbatschows Perestroika in den achtziger und neunziger Jahren wiederbelebt worden. Diese, als „Pädagogik der Majestät des Kindes“ apostrophiert, verschärften nachhaltig die ohnedies auf Grund des Zusammenbruchs der Sowjetunion entstandene tiefe Krise des russischen Bildungswesen. Experiment folgte auf Experiment, und mehrere Bildungsminister wurden hierbei verschlissen. Erst mit der Tagung des Staatsrates im September 2001 ist dieses konzeptionslose Hin und Her gestoppt worden. Seitdem gibt es auch in Russland wieder Bildungsstandards auf allen Stufen, ein darauf beruhendes Prüfungssystem, Rahmencurricula, externe Leistungsmessungen u. s. w..

In Deutschland waren von derartigen reformpädagogischen Ideen vor allem Pädagogen beeinflusst worden, die dem linken pädagogischen Spektrum angehörten. Sie agierten vor allem im nordwestliche Raum, während andere Länder, darunter vor allem Bayern, Baden-Württemberg, weiterhin auf Lernen und Leistungen nicht verzichteten. Die Länder Ostdeutschlands, nach der Wende auf „Patenländer“ aufgeteilt, zehrten noch Jahre von den Lernansprüchen der DDR-Schule, bis die unterschiedlichen pädagogischen Konzeptionen der sogenannten Patenländer zu dominieren begannen. Inzwischen reflektieren die PISA-Ergebnisse der Ostländer ziemlich genau die Bildungstheorien und -standards der jeweiligen Patenländer. Sachsen und, davon etwas abgesetzt, Thüringen, können sich nach wie vor mit Ländern messen, die gut abschneiden, sogar, wie gesagt, mit Bayern. Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern hingegen landeten mittlerweile mit Bremen auf den hinteren Plätzen. Diese Zuordnungen sind zu verblüffend als dass man sie ignorieren könnte. Mit Recht wird daher gefragt: „Wo waren die Eingeständnisse sozialdemokratischer Schulpolitiker, dass man Leistung vernachlässigt habe“? (Penne(n) trotz Pisa, 28.11.2002). Bildungs- und Leistungsansprüche im Schulwesen sind nicht alles, aber deren Ignorierung auf Grund zweifelhafter pädagogischer Theorien rächt sich, wie den verfügbaren Daten über Schülerleistungen zu entnehmen ist. Gewiss spielen auch weitere Faktoren, wie Arbeitslosigkeit und Abwanderung von aktiven Teilen der Bevölkerung, im Hinblick auf Schulleistungen eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Die Ernüchterung über den Leistungsstand des Bildungswesens der Bundesrepublik, eines der Resultate der Bildungsdebatte, hatte einen interessanten Nebeneffekt: die Wiederentdeckung der DDR-Schule. Diese war noch in der Endphase der DDR und erst recht nach der Vereinigung, wie bereits angedeutet, in Grund und Boden kritisiert worden, und sie bot hierfür allerdings, vor allem auf Grund penetranter Ideologisierung und administrativer Reglementierung der Bildungsströme, nicht wenige Anlässe. Die Unterkommission „Allgemeine schulische Bildung“ der gemeinsamen Bildungskommission BRD/DDR hatte daher mit der größten Selbstverständlichkeit die in der Bundesrepublik geltenden Bildungsvorstellungen auch für den deutschen Osten favorisiert. Rückschauend jedoch erweist sich als Vorzug, dass einzelne Länder bestimmte DDR-spezifische Regelungen beibehalten haben. So vor allem das Festhalten an der 12-jährigen Schuldauer bis zum Abitur, das jetzt bundesweit Furore macht. Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen favorisierten desweiteren ein zweigliedriges Schulangebot, mithin den Verzicht auf die Hauptschule. Mecklenburg-Vorpommern behielt die Dreigliedrigkeit, einschließlich Hauptschulen, bei, kommt jetzt allerdings auf Grund des dramatischen Rückgangs der Schülerpopulation in Schwierigkeiten, Brandenburg ebenfalls, das auf ein dreigliedriges Schulangebot: Gesamtschulen, Realschulen und Gymnasien gesetzt hatte. Glücklicherweise blieb im Vorschulbereich die Betreuungsdichte erhalten, wenngleich auch reduziert. Da DDR-Vorschulerziehung, in der Wendezeit aus linker Ecke ebenfalls massiv kritisiert, mitllerweile erneut aufgewertet wurde, können nunmehr die über Jahrzehnte im Osten gesammelten Erfahrungen ebenfalls nützlich sein.

Interessanterweise werden nunmehr, im Jahre zwölf Jahren nach der Vereinigung, nicht wenige Vorzüge der DDR-Schule wiederentdeckt. Am weitesten ging in dieser Hinsicht die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit der Feststellung: „All das worüber nach der PISA-Studie diskutiert wird, gab es schon einmal - in der DDR“. In zwölf Jahren zur Reifeprüfung, Prüfung nach der 10. Klasse (die im übrigen in der alten Bundesrepublik in den Siebzigern ebenfalls in der Diskussion war, dann aber verworfen wurde), Betreuung der Schüler auch am Nachmittag, eine Grundschule, die weniger als sechs Schuljahre braucht, polytechnische Bildung. Das Resümee: „Das DDR-System war schneller und straffer. Es habe durchaus seine Chancen für jedermann gehabt. Es habe eine solide naturwissenschaftliche Bildung vermittelt. Und der Lehrer sei nicht der Buhmann der Nation gewesen (Sozialistische Bildung. Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 25.4.2002, S. 14).

Der Zeitung „Die Welt“ war  zu entnehmen: „Das Schulsystem (der DDR) war übersichtlich und stringent organisiert. Die Lehrpläne und -ziele waren bis zum Abitur in allen DDR-Bezirken gleichermaßen verbindlich, die Leistungen daher vergleichbar. Die Lehrpläne bauten logisch aufeinander auf... Wer von Wismar nach Görlitz wechseln wollte, hatte nicht die Umstellungsprobleme, die heute Berlin von Brandenburg trennen: neue Lehrbücher, die 6. Klasse in Physik schnell mal nachzuholen...“ (Die Welt, vom 16.7.2002, S. 9). Weiter die Süddeutsche Zeitung: „Es spricht in der Tat viel dafür, dass die DDR in der PISA-Studie besser abgeschnitten hätte als Bremen oder Nordrhein-Westfalen. Und auch vor bayerischer Konkurrenz hätte sie sich nicht wirklich fürchten müssen. Schließlich wurde östlich der Elbe das beste Erbe der Arbeiterbewegung treu bewahrt: der Glaube an die heilbringende, erlösende  Kraft des Wissens“ (Autorität und Polytechnik. Süddeutsche Zeitung, vom 19.6. 2002, S. 15). Als mit dem DDR-Bildungswesen befasst Gewesener will ich an dieser Stelle einflechten, vor Bayern hatten wir gleichwohl, was Bildungsfragen betrifft, Respekt. Als wir uns seinerzeit mit Abiturfragen befassten, entschieden wir, was das Lernanspruchsniveau betrifft, uns an Bayern und nicht an Nordrhein-Westfalen zu halten, das ebenfalls im Gespräch war.

Am schärfsten in dieser Debatte formulierte die „taz“. Die Schulkinder der DDR hätten es mit dem damaligen Leistungsvermögen auf einen durchschnittlichen IQ von 102 gebracht. Eine gesamtdeutsche Schülerschaft würde infolgedessen im internationalen Vergleich im Leseverständnis nicht Platz 22, wie jetzt, sondern Platz 3 erreicht haben. Auch in Mathematik (Platz 3) und Naturwissenschaften (Platz 4) wäre diese hypothetische Schülerschaft in der Spitzengruppe platziert worden. Die heutigen Schulkinder der ehemaligen DDR, so der Leipziger Intelligenzforscher Volkmar Weiss, schaffen indessen nur noch 95 Punkte, genau so viel wie die in den alten Bundesländern. Desweiteren sei das DDR-System mitnichten, wie immer wieder behauptet wird, ein gleichmacherisches Gesamtschulsystem gewesen. Es habe, unterstützt durch nachhaltige Förderung der Schüler, stark differenziert, vor allem in den oberen Klassen. Flächendeckende Talentsichtungen auf verschiedenen Gebieten und ein System von Spezialschulen seien Normalität gewesen. In Ostberlin, so wird behauptet, hätten sich daher sogar Eltern heimlich mit Lehrerinnen verabredet, die Schüler weiter nach alten Ost-Lehrplänen zu unterrichten („Nach Pisa: Riesa“, 7.2.2002).

Ich nehme solcherart späte Entdeckungen ohne Euphorie zur Kenntnis, schon deshalb, weil derartige Rückblicke wiederum zu anderen Überzeichnungen neigen. Es gab in der Tat Vorzüge der DDR-Schule, aber deren nicht unerhebliche Schwächen sollten ebenfalls nicht übersehen werden. Hätten nicht nach 1990 die Schwächen beider Systeme eliminiert und die Stärken synthetisiert werden kön- nen? Die politischen Konzeptionen und die atmosphärischen Bedingungen haben dies nicht ermöglicht. Aber kann nicht wenigstens nach nunmehr dreizehn Jahren ein Niveau der Versachlichung erreicht werden, um über Für und Wider beider Systeme unvoreingenommen debattieren zu können? Sicher ist dies auch heute nicht.

 

3) Wiederkehr von Selbstblockierung?

 

Kenner der Bildungsgeschichte der alten Bundesrepublik verweisen auf Unterschiede zwischen früheren Reformen und den im Forum Bildung absolvierten. Der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen 1953 beziehungsweise der Deutsche Bildungsrat 1965 konnten noch hoffen, zuständige Verantwortliche würden ihre Vorschläge ernsthaft prüfen. Zudem agierten dazumal eine Bildungs- und eine Regierungskommission unabhängig voneinander, und erst in der Endphase, als entsprechende Entscheidungen zu treffen waren, wurden wissenschaftliche und durch Regierungserfahrungen geprägte Erkenntnisse und Vorstellungen miteinander konfrontiert. Zwar war vom Rahmenplan 1959 nicht alles und vom Strukturplan 1970 nur wenig realisiert worden, aber bei der jetzigen Reform ist von vorneherein auf derartige unabhängige Gremien verzichtet worden (Hoffmann 2000). Faktisch dominierten im Forum Bildung die Vertreter unterschiedlicher staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen und Apparate. Wissenschaftler waren absolut in der Minderheit, und sie artikulierten sich vorzugsweise in schriftlich eingereichten oder angeforderten Elaboraten, deren Umfang freilich, wie oben vermerkt, beträchtlich ist. Noch gravierender könnte werden, dass nach Abschluss von Aktivitäten des Forum Bildung nicht eindeutig erkennbar ist, welche Personen und Institutionen für die Verwirklichung der Empfehlungen tatsächlich verantwortlich sind. Als Hauptadressaten werden in der Regel Länder, Kommunen und Bund oder Länder, Bund und Sozialpartner sowie die Bildungsprozesse vor Ort Gestaltenden benannt. Das lässt offen, bei wem jeweils die entscheidende Verantwortung liegt. Im Konfliktfalle lädt dies dazu ein, die Verantwortung hin und her zu schieben. Das aktuelle Tauziehen zwischen Bund und Ländern demonstriert dies bereits.

Im Forum Bildung war wiederholt die Rede davon gewesen, frühere politische Voreingenommenheiten und Differenzen könnten nunmehr als überwunden gelten. Aber bereits auf dem Abschlusskongress konnte man Gegenteiliges beobachten. So hatten beispielsweise OECD-Verantwortliche darauf aufmerksam gemacht, die Bundesrepublik vernachlässige finanziell im Vergleich zu anderen Ländern Grundschule und Basisschule, während das Gymnasium überdimensional versorgt werde. Die frühe Auslese von Schülern in der Bundesrepublik, mittlerweile weltweit nahezu ein schulstrukturelles Unikat, behindert desweiteren deren Förderung und begünstigt das Zurückbleiben. An der Privilegierung des Gymnasiums indessen, so Verantwortliche mit einigem Nachdruck, dürfe jedoch unter keinen Umständen gerüttelt werden. Auch künftighin soll gelten, was der Deutsche Ausschuss 1959 festgelegt hatte: die Stufung der Bildungsanforderungen werde durch die arbeitsteilige Gesellschaft legitimiert. Mit Recht fragt daher die Zeitung „Die Zeit“ desweiteren: „Und welcher Konservative fragte sich öffentlich, ob das dreigliedrige Schulsystem tatsächlich der Schulweisheit letzter Schluss sei?“ (Penne(n) trotz Pisa, 28.11.2002). Der Pisa-Koordinator der OECD, Andreas Schleicher, jedenfalls artikulierte in einem Gespräch mit der Kultusministerin Baden-Württembergs Annette Schavan: „Die Schulform scheint ein Tabu zu sein. Dabei zeigen alle internationalen Vergleiche, dass kein erfolgreicher Staat auf eine so frühe Auslese und scharfe Abgrenzung wie Deutschland setzt“. Desweiteren bezweifelt Schleicher, ob Deutschland langfristig sein größtes Problem - den überragenden Einfluss der Herkunft seiner Schüler auf Leistungen - im gegliederten System lösen kann (Freiheit für die Schule 2002). Auf Grund politischer Fixierungen scheinen derzeit in der Bundesrepublik die Aussichten auf Veränderungen gering zu sein. Der bundesdeutsche Bildungsföderalismus mit seinen ganz unterschiedlichen Systemen, eine Art bildungspolitischer Kleinstaaterei, scheint für Öffnungen nicht aufgeschlossen zu sein. Sechzehn verschiedene Lehrpläne mit oft marginalen und zuweilen fachlich kaum überzeugenden Unterschieden - das ist ebenfalls ein Tabu-Thema. Und dabei ist unübersehbar, die meisten Gegensätze und Unterschiede sind nicht in erster Linie sachlich und fachlich begründet, sondern ein Relikt des föderalen Systems, das freilich auch durch handfeste politische Interessen gestützt wird.

Die Widersprüche spitzten sich weiter zu, je mehr der Bundestagswahlkampf in den Vordergrund rückte. Von den früher beschworenen Gemeinsamkeiten im Forum Bildung war kaum noch die Rede. Der bayerische Wissenschaftsminister Zehetmair, der vordem Gemeinsamkeiten betont hatte, ist der erste gewesen, der auf Grund seines Informationsvorsprungs über die Resultate von PISA-E den vereinbarten gemeinsamen Zeitpunkt der Veröffentlichung ignorierte. Er nutzte ungeniert, sozusagen außerhalb jeder Konkurrenz, die Chance, das gute Abschneiden Bayerns und Baden-Württembergs gebührend herauszustreichen und zugleich das Versagen sozialdemokratischer Länder des Nordens in kräftigen Farben zu zeichnen. Nun stehen diese tatsächlich nicht sonderlich gut da. Sie experimentierten in den siebziger und achtziger Jahren, wie gesagt, mit zweifelhaften bildungspolitischen Konzepten. Vermeintlicher Gerechtigkeit wegen senkten oder beseitigten sie sogar die Bildungsstandards. Von der ersten bis zur neunten Klasse werden in Nordrhein-Westfalen tatsächlich bis zu 1000 Unterrichtsstunden weniger gehalten als in Bayern. Andererseits wird mit keiner Silbe erwähnt, dass Bayern, bei PISA-E an der Spitze stehend, international an zehnter bis zwölfter Stelle platziert werden müsste. Mit einer Abiturientenquote von 21 Prozent versorgt dieses Land sich zudem mit geeigneten Kandidaten aus ganz Deutschland und anderen Ländern. In dem gleichen Bayern aber hat ein Kind aus der Oberschicht bei vergleichbaren Fähigkeiten für das Gymnasium eine sechsmal höhere Chance als eines aus einem Facharbeiterhaushalt.

Insgesamt bleibt die Bildungsdebatte in der Bundesrepublik hoch politisiert, und das stimmt alles andere als optimistisch. Die Selbstblockierungen, die aufgelöst sein sollten, scheinen wenige Wochen nach Abschluss des Forum Bildung wie eh und je präsent zu sein. Haben also jene Recht, die grundsätzlich an der Möglichkeit von Bildungsreformen hierzulande zweifeln? Bildung, Schule und Bildner seien stets anfällig für große Utopien. Jene, die auf diesem Felde wirkten, griffen zu hoch, lebten in der Welt des Idealen und wollten die Realität nach diesem Bilde formen. Sie seien Träumer und landeten schließlich immerfort auf der harten Erde. War man und ist man lange im pädagogischen Geschäft tätig, so verfügt man in der Tat über nicht wenige einschlägige alte und neue Erfahrungen. Jene über das Scheitern von DDR und DDR-Schule ebenso wie neuerdings die mit dem Forum Bildung und möglicherweise auch mit der geplanten Bildungsreform. Muss man also immerfort mit neuen Utopien und mit ihrem Kommen und Gehen leben? Dieser Tage besuchte ich das Reckahn des Friedrich Eberhard von Rochow im Brandenburgischen. Dort bewirtschaftete dieser Rittergutsbesitzer seit 1760 die Lehensgüter seines Vaters. Da er seine ökonomischen Bemühungen durch den Bildungsstand der Bauern und Tagelöhner gehemmt sah, begann er, ein begnadeter Pädagoge, ein Aufklärer für das einfache Volk, sich um die Bildung seiner Bauern zu bemühen, und das schließlich mit hohem Engagement. Er initiierte auch das erste von der Küsterausbildung abgekoppelte Lehrerseminar. Sein „Kinderfreund“, ein „Buch zwischen Fibel und Bibel“, erlebte 29 Auflagen mit insgesamt 40 000 Exemplaren zu Lebzeiten des Verfassers. Man konnte in seinen zahlreichen Schriften unter anderem schon damals lesen: „Ich denke doch nicht, ... dass man den Verstand eines Bauernkindes und seine Seele für Dinge einer anderen Gattung hält als den Verstand und die Seele der Kinder höherer Stände?“ (Von Rochows sämtliche pädagogische Schriften. Band I, S.4).

Die großen Worte scheute auch von Rochow nicht, und Niederlagen musste er ebenfalls erleiden. Aber war nach seinem Wirken die Welt nicht doch um Einiges zum Besserem verändert als vor ihm? Summieren sich Engagement und Leistungen nicht doch zu Fortschritten, zu kleineren und größeren? Eingeschlossen ebenfalls die Niederlagen. Es steht dem heutigen Zeitgenossen nicht an, sein begrenztes Mühen mit jenem großer Pädagogen zu vergleichen, aber ohne Mühsal, einem langen Atem und ein Moment des Utopischen ist pädagogisches Denken und Wirken wohl doch nicht denkbar.